




Für die meisten Menschen ist Kohlendioxid die schmutzige Folge des industriellen Ölzeitalters. Die Ursache für globale Erwärmung, schmelzende Gletscher und anschwellende Ozeane. Der Klimakiller schlechthin. Und wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, dann soll das aus Fabrikschloten und Auspuffrohren quellende Abgas doch bitte tief unter die Erde verschwinden: Auf dass wir nie wieder damit zu tun haben.
Das aber, so glaubt eine wachsende Schar von Forschern, könnte ein teurer Irrweg sein. Nicht nur, weil diese Speichertechnik – zu Recht – höchst umstritten ist. Vor allem, so ihre Überzeugung, sei Kohlendioxid viel zu wertvoll, um es unter die Erde zu verbannen. Denn neue Technologien machen CO2 plötzlich zu einem kostbaren Rohstoff für weite Teile der Industrie.
Unterschätzte Möglichkeiten
Die Palette der Einsatzmöglichkeiten reicht von Folien über Tupperboxen bis hin zu Zement. Schon heute wird CO2 zu Harnstoff für die Kunstdüngerherstellung und zu Aspirin verarbeitet. Schon bald könnte es auch – in einem mehrstufigen Verfahren mit Wasserstoff zu Sprit verarbeitet – Autos und Flugzeuge antreiben. Daher fordert mittlerweile auch ein Expertengremium der EU: Kohlendioxid dürfe nicht vergraben, sondern müsse recycelt werden.
Das ist neu. Bislang trauten Forscher der Idee, Kohlendioxid als Rohstoff zu nutzen, nicht viel zu. Das Recycling könne lediglich einen „geringen Beitrag von einem Prozent zur Reduktion der CO2-Emissionen leisten“, hieß es beim Verband der Chemischen Industrie noch vor wenigen Jahren. Nach Weltretten klang das nicht gerade – wäre aber dringend nötig. Schließlich summierte sich der Ausstoß von Kohlendioxid als Abgas zuletzt auf die kaum vorstellbare Menge von gut 30 Gigatonnen im Jahr.
Wie aus dem Klimagas CO₂ Schaumstoff wird
CO₂ lässt sich unter anderem in fossilen Kraftwerken gewinnen, wo es dem Abgas mithilfe der Rauchgaswäsche entzogen wird.
Verflüssigt kann das CO₂ zur Weiterverarbeitung transportiert oder – gasförmig – direkt vor Ort chemisch umgewandelt werden.
Im Idealfall werden Wärme oder Wasserstoff und der benötigte Strom mit regenerativen Quellen wie Windkraft erzeugt.
Mithilfe von Katalysatoren werden die CO₂-Bausteine Kohlenstoff und Sauerstoff mit anderen Elementen zu neuen Chemikalien umgebaut.
Die Basis-Chemikalien können in der weiteren Produktion chemisch identische Stoffe ersetzen, die bisher auf Erdölbasis hergestellt werden.
CO₂-basierte Polykarbonate, Polyurethane aber auch Methanol lassen sich zum Beispiel zu CDs, Schaumstoffen oder Treibstoff verarbeiten.
Alessandra Quadrelli glaubt, dass die Wissenschaft die Möglichkeiten des Kohlendioxids bei Weitem unterschätzt. Die Leiterin des Lehrstuhls für Nachhaltigkeit forscht an der Universität Lyon – auch im Auftrag der EU – an Verwertungskonzepten: CO2 könnte in den nächsten Jahren zu einem der wichtigsten Grundstoffe der Chemieindustrie werden.
Kraftstoff für die Chemieindustrie
Quadrelli spricht daher von einer beginnenden Kohlendioxidwirtschaft – einer Wirtschaft, die den Stoff nicht nur ausstößt, sondern ihn zugleich produktiv zu nutzen weiß. Sie kalkuliert, dass sich mithilfe innovativer CO₂-Recycling-Technologien ein Zehntel der global erforderlichen Treibhausgasreduktion erzielen ließe. Das wäre etwa so viel, wie Unternehmen und Staaten mithilfe der strittigen CCS-Technik unterirdisch einlagern wollen.
Es ist ein plötzlicher Imagewandel, der dem Klimakiller den Schrecken nehmen könnte: Kohlendioxidrecycling sei ein „heißes Zukunftsthema“, sagt auch CO₂-Expertin Martina Peters vom Chemiekonzern Bayer. Die Nobelpreisträger George Olah und Josef Stiglitz würdigen das Gas gar als künftigen Kraftstoff der Chemieindustrie.
Die Experten des US-Energieministeriums wollen diese Chancen nutzen. Sie haben seit 2010 rund 106 Millionen Dollar in die Vision einer Kohlendioxidwirtschaft gesteckt. Das Bundesforschungsministerium stellt ebenfalls seit 2010 100 Millionen Euro bereit. Nun steigen auch Chemieunternehmen in das Geschäft ein, darunter Evonik, BASF und Bayer – und mit ihnen Technologie- und Energiekonzerne wie Siemens, RWE und EnBW.
Badelatschen aus CO2
Die Folge könnte sein, dass CO2 schon in wenigen Jahren in den meisten Alltagsprodukten steckt – von Badelatschen bis zu Medikamenten. Möglich wird das durch einen radikalen Technologiesprung: Zwar ist Kohlendioxid energiearm und reaktionsträge. Ohne hohen Energieaufwand ist der Stoff kaum zu verarbeiten. Zugleich aber ist Kohlenstoff – die Basis von CO2 – der unverzichtbare Grundbaustein vieler chemischer Verbindungen. Damit ist die Substanz auch Grundlage der gesamten Industrie.