Coronavirus und die Folgen Wie groß werden die Einschnitte noch?

Öffentliche Schnelltests für Corona-Infektionen: zögerliches Vorgehen oder panischer Aktionismus? Quelle: dpa

In Deutschland klagen viele Bürger und Unternehmen über allzu rigide Eingriffe des Staates zur Corona-Abwehr. Experten aber gehen davon aus, dass die Einschränkungen noch zunehmen. Firmen sollten sich darauf vorbereiten.

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Antonio Pesenti, 68, koordiniert die Intensivpflege beim Krisenstab der italienischen Region Lombardei – einer der bisher am stärksten vom Coronavirus betroffenen Regionen weltweit. Der Mann ist es also gewohnt, Notfälle aller Arten zu regeln. Aber am vergangenen Wochenende wählt der Rettungsarzt drastische Worte: „Mittlerweile sind wir gezwungen, intensive Therapien im Korridor, in den Operationssälen, in den Aufwachräumen durchzuführen. Wir haben ganze Stationen entkernt, um Platz für Schwerkranke zu schaffen“, sagte er der Zeitung „Corriere della Sera“

In der hochentwickelten Wirtschaftsregion im Norden des Landes sei das Gesundheitssystem – eines der besten der Welt – nur noch einen Schritt vom Zusammenbruch entfernt, warnt der Notfallmediziner. „Wenn die Bevölkerung nicht versteht, dass sie zu Hause bleiben muss, wird die Situation katastrophal.“

Noch ist die Bundesrepublik weit entfernt von Zuständen wie im Norden Italiens. Noch pendeln Millionen von Bundesbürgern allmorgendlich in Büros, Geschäfte und Fabriken. Noch listet die globale Corona-Statistik der renommierten Johns-Hopkins-Universität für Deutschland „nur“ drei Todesfälle als Folge von Covid-19-Erkrankungen auf. Nicht 827, wie aktuell in Italien (Stand: 12. März 2020, 14:45 Uhr).

Und so begnügen sich deutsche Politiker hierzulande noch mit Empfehlungen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn etwa riet am Montag dazu, große Events mit mehr als 1000 Menschen abzusagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel appellierte am Mittwoch auf einer vorgezogenen Bundespressekonferenz an die Solidarität der Menschen und sagte: „Wir werden das, was notwendig ist, tun.“ Mancher liest hier schon eine wackelnde Schwarze Null hinein.

In Italien, wo mittlerweile bald 12.500 Menschen als infiziert bekannt sind, hat Ministerpräsident Giuseppe Conte am Montagabend hingegen bereits das ganze Land per Dekret zur Sperrzone erklärt. Die Menschen dürfen nur noch aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen unterwegs sein – oder falls es sonst dringend notwendig ist.

Angemessene Vorgabe oder Behördendiktat

Was angemessen und was Panikmache, was sinnvolle Vorsorge und was eine unangemessene Beschränkung einer ohnehin schon ins Trudeln geratenen Wirtschaft ist, darüber diskutiert Deutschland derzeit. Während etwa eine Fraktion in sozialen Medien moniert, die Gesundheitsbehörden würden viel zu zögerlich Schnelltests für Corona-Infektionen bereitstellen, kritisieren Skeptiker, die Absagen seien von Hysterie und Ahnungslosigkeit bestimmt. Dass Fußballderbys wie Köln gegen Gladbach oder Dortmund gegen Schalke ohne Zuschauer als Geisterspiele stattfinden müssten, wie am Dienstag beschlossen, sei purer Aktionismus. 

Andere klagen, die ökonomischen Folgen der Vorgaben durch Behörden seien unverantwortlich. Tatsächlich leiden etwa vom Tourismus bis zum Messebau schon jetzt zahlreiche Unternehmen schwer unter den immer neuen Absagen oder Verschiebungen von Reisen, Messen und Kongressen.

Während etwa Düsseldorfs Bürgermeister Thomas Geisel die Grenze von 1000 Personen „für ziemlich willkürlich“ hält und statt auf Absagen erst einmal auf besseren Selbstschutz der Gäste bei größeren Veranstaltungen setzt, hat die bayrische Staatsregierung am Dienstag alle Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Gästen bis Karfreitag verboten. 

Mediziner und Katastrophenschutzexperten halten Spahns Empfehlungen angesichts von inzwischen gut 2000 diagnostiziert Infizierten (12.3.) auch in der Bundesrepublik für sinnvoll. Der rät zudem länger schon zum eigenen Schutz und auch zum Schutz von Mitbürgern für ein paar Wochen oder Monate auf Veranstaltungen wie Konzert- oder Clubbesuche, Fußballspiele und auch Reisen zu verzichten. 

„Obergrenze besser bei 100 bis 200 Leuten“

„Selbst wenn wir die Verbreitung des Virus und den Anstieg der Krankenzahl mit der Absage von Großveranstaltungen nicht stoppen können, so verlangsamen wir dadurch jedoch die Zunahme an neuen Fällen“, sagt etwa Benno Fritzen, langjähriger Vorsitzender des Arbeitskreises Zivil- und Katastrophenschutz der deutschen Berufsfeuerwehren. Das könne helfen, den Anstieg an Infektionen zu bremsen, und reduziere den Druck auf Behandlungseinrichtungen wie Hausarztpraxen und Krankenhäuser. 

Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer und des Weltärztebundes, hält auch Spahns 1000-Personen-Grenze sogar für noch zu hoch. Er befürworte „eher 100 bis 200“ Teilnehmer als Grenzwert, um zu verhindern, dass sich das Virus allzu rasch ausbreite.

100 bis 200 Menschen, die drängen sich aber zur Hauptverkehrszeit schon an Bahnhöfen oder größeren Haltestellen. Und so stellt sich auch für immer mehr Unternehmen die Frage, ob sie ihre Beschäftigten beim täglichen Pendeln einem weiter stark steigenden Infektionsrisiko aussetzen sollen. Lag die Zahl der bestätigt Infizierten bundesweit am 4. März noch bei gut 250, so hat sich die Zahl eine knappe Woche später bereits mehr als verfünffacht. 

Ein Ende des Anstiegs ist noch lange nicht abzusehen. Hochrechnungen der Bundesregierung aus einem Pandemiekonzept aus dem Jahr 2013 etwa gehen im Fall eines coronaähnlichen Virus' von mehreren Millionen Infizierten bereits im Lauf des ersten Jahres aus. Ein Szenario, das Fachleute für realistisch halten.

„Es werden sich wahrscheinlich 60 bis 70 Prozent der Bundesbürger infizieren“, sagt etwa der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité. „Das kann durchaus zwei Jahre dauern oder sogar noch länger.“ Wichtig sei vor allem, die Ausbreitung zu verlangsamen, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Geisterspiele im Fußball wären dann, wenn sich die Lage verschärft, wohl erst der Anfang, dem deutlich größere Einschränkungen folgen dürften.

Der Chef des Krisenstabs in einer nordrhein-westfälischen Großstadt jedenfalls betont: „Es geht nicht darum, dass Corona für die Masse der Menschen hier besonders gefährlich ist, sondern dass die Masse der Infizierten so groß wird, dass auch die Zahl der besonders Hilfsbedürftigen die Kapazitäten der Krankenhäuser übersteigt.“

„Es wird Maßnahmen erfordern, die zu wirtschaftlichem Abschwung führen“

In der Lombardei sei der Zustand längst erreicht, berichten Ärzte. Inzwischen ist die Lage so prekär, dass der Verband der Fachärzte für Intensivtherapie warnt, man werde bei einer weiteren Zunahme der Patientenzahl eine Altersgrenze für die Aufnahme in Intensivpflege setzen müssen:  Lebensrettende Maßnahmen – vor allem die Beatmung von Kranken mit schweren Lungenentzündungen – wären dann den jüngeren Patienten vorbehalten mit besseren Heilungs- und Überlebenschancen. Ältere müsste man sterben lassen.

Damit es hierzulande möglichst nicht so weit kommt, versuchen die Behörden nun, das Infektionstempo zu bremsen, ohne allzu weitgehend ins Alltagsleben der Menschen einzugreifen. „Wir können die Welt nicht anhalten und das gesellschaftliche Leben zum Erliegen bringen“, sagt Katastrophenschützer Fritzen. Es gelte, zwischen Risiken und Nutzen einzelner Maßnahmen abzuwägen. „Öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, ist zwingend erforderlich, um das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten – anders als die Teilnahme an vermeidbaren Ansammlungen, wie etwa Sportevents oder Festivals.“

Das bedeutet aus Sicht professioneller Katastrophenschützer aber auch, dass Unternehmen prüfen sollten, ob und welche Beschäftigten an Büroarbeitsplätzen abkömmlich sind

„Jeder Mitarbeiter, der seinen Job auch von zuhause aus machen kann, ist einer, der sich unterwegs weniger anstecken oder eine Infektion ins Unternehmen oder nach Hause tragen kann“, heißt es etwa aus dem Katastrophenschutzstab einer großen deutschen Hilfsorganisation. 

Auch das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe rät in seinem Handbuch Betriebliche Pandemieplanung unter anderem dazu, Heimarbeitsplätze einzurichten, um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren.

Denn dies prognostizieren Experten: Die wirtschaftlichen Folgen von Corona werden sich nicht auf sinkende Börsenkurse, den Ausfall von Messen oder stockende Lieferketten beschränken. Daneben wird sich auch der zeitweilige Ausfall Tausender Beschäftigter bundesweit in der Produktivität der deutschen Unternehmen niederschlagen, wenn die entweder selbst erkrankt oder für längere Zeit in Quarantäne sind.

Zielkonflikt für die Politik

Zunächst einmal werden die staatlichen Restriktionen wohl eindeutig zulasten der Unternehmen gehen, wie die Autoren eines aktuellen Beitrags im renommierten britischen Wissenschaftsmagazin „The Lancet“ schreiben. 

Die Regierungen steckten in einem Zielkonflikt: Es werde nicht gelingen, die Zahl der Toten durch die Corona-Erkrankung und den wirtschaftlichen Schaden durch die Verbreitung des Virus gleichermaßen zu minimieren. „Die Sterblichkeit aufs niedrigstmögliche Maß zu senken und die Ausbreitung der Epidemie zu bremsen, wird zwangsläufig Maßnahmen erfordern, die zu einem wirtschaftlichen Abschwung führen“, so die Autoren im Lancet.

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