WirtschaftsWoche: Herr Müller, Herr Brendel, Sie haben gerade zusammen Ihr Buch „Die Zucker-Lüge“ veröffentlicht. Was wollen Sie damit erreichen?
Müller: Wir möchten aufklären, damit Menschen sich eine Meinung auf der Grundlage von Informationen und Fakten bilden können. Ich schreibe seit 25 Jahren über Ernährungsthemen und es stört mich ungemein, dass einzelne Lebensmittelinhaltstoffe wie der Zucker unreflektiert als das alleinig Schädliche dargestellt und quasi an die Wand gestellt werden, wobei die Faktenlage teilweise eine ganz andere Sprache spricht.
Haben Sie denn tatsächlich das Gefühl, dass der Zucker neben Salz oder Fett besonders benachteiligt ist? Es behauptet doch niemand ernsthaft, dass Zucker alleine der Dick- oder Krankmacher ist.
Brendel: Auch andere Inhaltsstoffe sind unter Beschuss, das stimmt. Aber ich beschäftige mich seit über 30 Jahren mit Ernährungsthemen und finde die isolierte Betrachtung des Zuckers als besonders auffällig. Wir könnten hier eine endlose Liste von Überschriften aufmachen, im Stil von „Zucker macht süchtig“ oder „Zucker bringt uns um“.
Das sind ganz klare und massive Angriffe auf den Zucker, wobei es dafür keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Zucker macht weder dick, noch süchtig, noch macht er Karies.
Wieviel Zucker steckt in...
In dem Schokoriegel (18 Gramm) stecken rund sechs Gramm Zucker.
In einem Riegel (58 Gramm) stecken rund 39 Gramm Zucker.
20 Gramm der Schokocreme enthalten rund 12 Gramm Zucker.
200 Milliliter Apfelsaft enthalten 20 Gramm Zucker.
200 Milliliter Cola enthalten etwa 18 Gramm Zucker.
200 Milliliter Milch enthalten 10 Gramm Zucker.
Eine Portion (50 Gramm) dieses Kinderprodukts enthält 7,6 Gramm Zucker.
Zwiebelsuppe aus der Tüte von Maggi enthält laut Hersteller 24 Gramm Zucker auf 100 Gramm der trockenen Zubereitung. Fertig gekocht entspricht das bei einer Portion von 250 Millilitern 3,3 Gramm Zucker.
Zucker macht keinen Karies?
Müller: Nein, kein Zahnarzt würde je behaupten, dass Zucker alleine Karies macht. Aber bei den Menschen kommt es so an. Doch es sind viele verschiedene Faktoren, die beim Karies-Infektionsgeschehen eine Rolle spielen. Etwa die Zahnhygiene, die Mundflora, der Ph-Wert, die Fluoridzufuhr oder das Abspülen. Wenn ein Mensch vollständig auf Zucker verzichtet, kann er mehr Karies bekommen als jemand, der Zucker zu sich nimmt.
Aber die Karies erzeugenden Bakterien im Mund sind doch auf Energielieferanten wie Zucker angewiesen und freuen sich über dieses Mastmittel.
Müller: Genauso über Zwieback, Chips oder Salzstangen. Denn die enthalten ebenfalls nahrhafte Kohlenhydrate – und sie haften anders als Zucker als Nahrungsbrei auch noch auf den Zähnen auf. Hier müssten wir jetzt also ganz tief in die Biochemie der Kohlenhydrate und die technologische Beschaffenheit einsteigen. Aber ich bin mir sicher, dass Salzstangen mehr Karieswahrscheinlichkeiten machen als ein Würfel Zucker. Sie deshalb zu verteufeln, wäre natürlich Blödsinn.
Sie können sich sicher noch erinnern, dass es vor nicht allzu langer Zeit gesüßte Kindertees gab, die nachweislich Karies machten?
Brendel: Ja, aber nur, weil Eltern Kinder stundenlang an einem Fläschchen nuckeln ließen. Da kann der Tee an sich nichts dafür.
Hinter welchen Bezeichnungen sich Zucker versteckt
Zuviel Zucker ist ungesund - das weiß jedes Kind. Doch die süße Zutat versteckt sich hinter allerlei Bezeichnungen. Ein Blick auf häufige Deklarationen, um den Durchblick zu wahren:
Das ist der gewöhnliche Haushaltszucker, der aus einem Molekül Glucose und einem Molekül Fructose besteht. Gewonnen wird er aus Zuckerrübe, Zuckerrohr und Zuckerpalme. Übrigens: brauner Zucker ist nicht gesünder als weißer. Beide haben gleich viele Kalorien (400 kcal pro 100 Gramm) und sind gleich schädlich. Weißer Zucker wird einfach häufiger gereinigt. Brauner Zucker kann zwar noch minimale Mineralstoff-Spuren enthalten, das ist aber so wenig, dass es gesundheitlich keinerlei Vorteil bringt.
Hinter dem Begriff Laktose verbirgt sich der Milchzucker. Er setzt sich aus einem Molekül Glukose und einem Molekül Galaktose zusammen. Für Menschen mit einer Laktoseintoleranz ist der Zucker problematisch: Sie können ihn nicht verdauen, was zu Blähungen und Durchfall führt. In der Lebensmittelherstellung ist Laktose beliebt, weil sie billig ist und damit eine cremige Konsistenz erzeugt werden kann, was zum Beispiel bei Schokoriegeln erwünscht ist.
Generell lässt die Endung -ose auf Zucker schließen, etwa Dextrose oder Fruktose.
Es ist ein Nebenprodukt der Käseverarbeitung und besteht zu etwa 72 Prozent aus Milchzucker.
Er wird auch als Glucose-Sirup, Bonbonsirup, Isoglukose, Corn Sirup oder Maiszucker bezeichnet. Es handelt sich um einen Zuckersirup, der durch enzymatische Aufspaltung einer stärkehaltigen Lösung entsteht und aus Glukose und Fruktose (in veränderlichen Anteilen) besteht. Er kann besonders billig aus Mais, aber auch aus Kartoffeln und Weizen gewonnen werden. Diese Zuckersirup-Arten werden vor allem für Pralinen, Riegel oder Frühstücksflocken als Bindemittel eingesetzt, weil sie so klebrig sind. Kalorientechnisch steht der Sirup dem Haushaltszucker in nichts nach.
Er wird mit Säure oder einem Enzym (der sogenannten Invertase) aus Saccharose hergestellt, die dabei in ihre beiden Bausteine Glukose und Fruktose zerlegt wird. Dadurch schmeckt er etwas milder und fruchtähnlicher. Invertzuckersirup wurde früher auch "Kunsthonig" genannt. In der Lebensmittelindustrie wird er ähnlich wie Glukosesirup eingesetzt, weil er nicht so leicht kristallisiert.
Maltose, der Malzzucker, ist ein Abfallprodukt in der Stärkeherstellung aus zwei Glukosemolekülen. Er entsteht zum Beispiel beim Bierbrauen. Zucker verbirgt sich außerdem hinter allen Bezeichnungen, die mit "Malto" beginnen, etwa Maltodextrin oder Maltoextrakt.
Er gilt als Alternative zum Zucker, enthält aber fast so viele Kalorien wie normaler Zucker, da er zu etwa 80 Prozent aus Zucker besteht. Verbreitet sind zum Beispiel Agaven- oder Apfeldicksaft.
Die Eltern sind schuld?
Müller: Ja. Das war ein völlig unsachgemäßer Gebrauch dieses Lebensmittels
Interessant. Na, immerhin haben die Hersteller diese Produkte auf Druck der Öffentlichkeit vom Markt genommen. Kommen wir zum Übergewicht. Sie behaupten allen Ernstes, dass Zucker nicht dick macht?
Brendel: Ja, er ist jedenfalls nicht die alleinige Ursache.
Zucker ist nicht schuld
Ich finde es sehr nachvollziehbar, dass Menschen, die in Form von süßen Limos, übersüßten Pausensnacks oder Betthupferln mehr Kalorien aufnehmen, als sie verbrauchen, zunehmen und dick werden.
Brendel: Sie haben es gerade selbst gesagt. Nur wer mehr Kalorien aufnimmt, als er verbraucht, wird dick. Nicht die Zuckerzufuhr ist entscheidend, sondern das Maß an Bewegung und Sport. Hier haben gerade bei Kindern und Jugendlichen die Eltern eine große Verantwortung. Das ist eine Frage des Lebensstils, um den wir uns heute dringend kümmern müssen.
Es geht also nicht um eine isolierte Betrachtung des Zuckers, der immer wieder als Hebelpunkt benutzt wird von all jenen, die gegen die Ernährungswirtschaft zu Felde ziehen und die die Bevölkerung reglementieren wollen.
Warum erinnern mich ihre Worte so sehr an das Mantra der Nahrungsmittelkonzerne und ihrer Lobbyisten? Die antworten reflexartig auf den Vorwurf, sie mischten zu viele und immer mehr wohlschmeckende Kalorien in Form von Fett oder Zucker in ihre Waren, mit genau diesem Argument.
Brendel: Ich schätze mal, weil es stimmt. Tatsächlich hat der Zuckerverbrauch in Deutschland seit dreißig Jahren ja gar nicht zugenommen. Das ist belegt. Was dagegen drastisch zugenommen hat, sind Computerspiele und ähnliches, was Menschen von Bewegung und Sport fern hält. Das sollte als Dickmacher gebrandmarkt werden. Und ich finde, man kann der Lebensmittelwirtschaft auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie ihren Kunden wohlschmeckende Produkte anbietet. Wir Menschen essen nun einmal gerne Süßes.
Schneller schlau: Adipositas
Fettleibigkeit bei Kindern und Erwachsenen hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Fachbezeichnung für die extreme Form des Übergewichts lautet Adipositas.
Laut Weltgesundheitsorganisation gelten Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 25 bis 30 als übergewichtig und mit einem BMI von mehr als 30 als adipös, also fettleibig.
Den BMI erhält man, indem man sein Gewicht durch die Körpergröße zum Quadrat teilt.
Bei Kindern und Jugendlichen ist eine BMI-Kategorisierung schwieriger, da es große individuelle Entwicklungsunterschiede gibt.
Betroffene leiden oft unter Bluthochdruck, hohen Cholesterinwerten, einem erhöhten Diabetesrisiko, Herzschwäche, einer Fettleber und Gelenkproblemen. Auch die Wahrscheinlichkeit, an bestimmten Krebsarten zu erkranken, steigt. Wenn Betroffene zudem gesellschaftlich ausgegrenzt werden, leidet die Psyche.
Es gibt spezielle Adipositas-Kliniken, wo sich Ärzte, Therapeuten und Psychologen um die Patienten kümmern. Die erste Maßnahme zur Gewichtsreduktion sind ein maßvolles Essverhalten und ausreichend Bewegung.
Eine Operation gilt erst als ratsam, wenn Ernährungsberatungen und andere Methoden keinen Erfolg bringen.
Müller: Das ist evolutionär bedingt. Schon ein Baby lächelt, wenn es etwas Süßes auf der Zunge spürt.
Zu Zeiten, als jede Kalorie noch erjagt oder gesammelt werden musste, war das ja sicher auch sehr sinnvoll. Heute im Angesicht von prall gefüllten Supermärkten ist das aber wohl eher kontraproduktiv.
Müller: Nur um das klar zu stellen: Ich bin nicht dafür, dass Lebensmittel übermäßig gesüßt werden oder Zucker im Übermaß konsumiert wird. Aber ich wehre mich dagegen, dass Zucker verteufelt wird und Menschen Angst haben, überhaupt noch Zucker zu sich zu nehmen.
Zurück zum Zuckerverbrauch. Wenn der angeblich nicht zugenommen hat, wieso sind Limos oder Joghurtdrinks dann – vor allem in Nordamerika aber oft auch bei uns - inzwischen oftmals so pappsüß, dass viele Menschen sie widerlich finden? Und warum süßt die Industrie Softdrinks und Lebensmittel mit Fruktose aus Maissirup?
Brendel: Wir beschreiben vor allem die deutsche und europäische Situation.
Müller: Und wir schreiben nur über den Haushaltszucker, die Saccharose. Das führen wir im Buch auch ganz klar aus.
Der Gleichklang Ihrer Worte mit den Botschaften der Lebensmittel-Industrie ist so auffällig – und manche Ihrer früheren Auftraggeber wie Coca Cola oder Nestle sind so klar positioniert, dass ich Sie fragen möchte: Ist das Buch ein Auftragswerk? Bezahlen Lebensmittelkonzern oder deren Verbände Sie dafür?
Brendel: Nein…
Müller: … natürlich nicht. Ich erkläre hiermit an Eides statt, dass ich - um das Buch zu schreiben - keinerlei Geld oder Inzentivierung von einem Unternehmen oder einen Verein bekommen habe oder noch bekommen werde. Wir können Ihnen auch gerne die Verträge offen legen, obwohl ich das sehr ungewöhnlich fände. Wir wollen nichts weiter, als den Menschen die völlig unbegründete Angst vor dem unbegründet verteufelten Zucker nehmen.