Herr Dierks, es gibt Apps, die prüfen sollen, ob ein Leberfleck bösartig ist, andere sollen Tinnitus behandeln. Überlassen Sie Diagnose und Behandlungsempfehlungen einer App oder einem Algorithmus, wenn Sie sich ernsthaft krank fühlen?
Nein. Die Diagnose selbst oder die Entscheidung über die Therapie überlasse ich keiner App und keinem Algorithmus. Aber Algorithmen, die qualitätsbasiert erarbeitet und systematisch weiterentwickelt werden, können als zusätzliche Informationsbasis für die Entscheidung eines Arztes dienen. Im Idealfall wird der Arzt seine Erkenntnisse aus der analogen Welt um die der digitalen erweitern und so eine bessere Diagnose treffen können.
Zur Person
Dierks ist Professor für Gesundheitssystemforschung, Doktor der Medizin und Rechtswissenschaft. Mit seiner Firma Dierks+Company leistet er Rechtsberatung in den Bereichen Digital Health, Medizinprodukte, Arzneimittel und Diagnostik. 2017 zeichnete ihn das „Handelsblatt“ als Pharmarecht-Anwalt des Jahres aus.
Sie wirken sehr optimistisch. Wie sieht die Qualitätssicherung im Bereich medizinischer Algorithmen aus?
Rechtlich gesehen sind solche Anwendungen Medizinprodukte – und zwar entweder solche, die Informationen sammeln, die zur Entscheidungsfindung beitragen oder solche, die selbstständig Diagnosen stellen. Spätestens mit Geltung der neuen Medizinprodukteverordnung im Jahr 2020 muss eine „Benannte Stelle“, zum Beispiel der TÜV, beide Arten von Produkten zertifizieren. Ohne eine solche Zertifizierung dürfen Anbieter sie nicht auf den Markt bringen. Die Zertifizierung garantiert noch nicht die Richtigkeit der Ergebnisse der Algorithmen, aber sie ist eine Qualitätssicherung. Eine Herausforderung zeichnet sich ab: wir haben aktuell zu wenig Zertifizierungsstellen, um mit der Vielzahl der neu entwickelten Anwendungen Schritt zu halten.
In Japan hat IBMs Künstliche Intelligenz Watson 2016 in lediglich zehn Minuten Daten und Gene einer Patientin mit den Daten von 20 Millionen anderen Krebspatienten verglichen und eine seltene Form von Leukämie diagnostiziert. Geben Ärzte zu viel von ihrer fachlichen Kompetenz an KI ab, wenn sie sich so sehr auf deren Diagnose verlassen?
Ich sehe darin keine Abgabe von Kompetenzen, sondern die Nutzung vorhandener Daten und Rechenkraft. Die Konzeption, genetische Daten zum Beispiel eines Tumors, der genetischen Disposition eines Patienten und die genetisch bedingten Eigenheiten seines Arzneimittelstoffwechsels in einer mehrdimensionalen Matrix zusammenzuführen, ist von Ärzten erdacht. Diese wachsende Datenfülle kann doch heute kein Mediziner allein bewältigen. Programme, die von Menschen gemacht sind und selbstständig lernen, ermöglichen es uns, die zahlreichen relevanten Informationen zu verarbeiten und auf den einzelnen Patienten zugeschnittene Ergebnisse zu berechnen. Das ist eine große Chance für die Medizin und dient dem Patienten.
Was glauben Sie, welche Rolle Big Data in der Medizin in fünf Jahren spielen wird?
Schon heute nutzen Ärzte Analysetools, die auf Big Data basieren, etwa in der Onkologie. Ich bin überzeugt davon, dass die Entwicklung deutlich rasanter vonstatten gehen wird, als wir uns das gerade vorstellen. Nicht nur in spezialisierten Zentren werden in spätestens zehn Jahren Künstliche Intelligenzen kontinuierlich von Ärzten genutzt. Und in naher Zukunft wird KI sicher auch zur Prävention und Therapie der multifaktoriellen Volkskrankheiten eingesetzt – etwa Diabetes, Herzkreislauferkrankungen oder chronische Atemwegsstörungen.
In Anbetracht dieser rasanten Entwicklung und all der Daten, die dafür benötigt werden – ist unsere Rechtslage für diese schnellen Fortschritte in der digitalen Medizintechnik gewappnet?
Noch nicht. Die Daten sind der wichtigste Rohstoff in der Medizin. Ihre Verfügbarkeit entscheidet maßgeblich über die Qualität der Behandlung. Die Herausforderung ist es, möglichst umfassend und strukturiert alle benötigten Daten für die Diagnostik, die ärztliche Entscheidung und die Begleitung einer Therapie zu bündeln. Der Patient selbst braucht die Möglichkeit, seine Daten zu verknüpfen und selbstständig zu entscheiden, wem er wann welche Daten zur Verfügung stellen möchte. Und der Patient muss darauf vertrauen können, dass seine Daten nicht nur geschützt werden, sondern auch verfügbar bleiben. Letzteres ist eine Frage der Datensicherheit und heute wichtiger denn je. Dies alles ist schon nach der gegenwärtigen Rechtslage lösbar – was noch fehlt ist die Interoperabilität der vorhandenen Patientenakten und ein Konsens in der Gesellschaft, dafür zu bezahlen. Für KI brauchen wir einen global konsentierten Rechtsrahmen, der sicherstellt, dass sie verfügbar, sicher, fair und effizient ist. Die Initiative der EU-Kommission hierzu ist ein erster wichtiger Schritt.