Gestresste Manager, gestresste Hausfrauen, gestresste Kinder - Stress und seine Gefahren für die Gesundheit werden seit Jahren öffentlich diskutiert. Doch warum ist das eigentlich so?
Ein Forscherteam um Mark Petticrew, Professor für Gesundheitswissenschaften an der London School of Hygiene and Tropical Medicine, hat die Forschung zum Thema Stress und das erhöhte Risiko für Herzinfarkte und Krebs untersucht - und Erstaunliches zu Tage gebracht, wie der amerikanische Radiosender National Public Radio (NPR) berichtet.
Die Expertengruppe wühlte sich jahrelang durch Millionen von Dokumenten der Tabakindustrie. Dabei fand sie heraus, dass die Stress-Forschung zu dieser Zeit massiv von der Tabak-Industrie gesponsert und beeinflusst wurde.
Was die Deutschen über Raucher denken
Laut einer Umfrage im Auftrag der Krankenkasse BKK Mobil Oil halten 85 Prozent der Deutschen die Willensschwäche der Raucher für den Grund, dass vielen das Aufhören nicht gelingt.
Quelle: repräsentative Umfrage von TNS Emnid
53 Prozent der Befragten gaben an, sich im Alltag zumindest gelegentlich von Rauchern gestört zu fühlen, 12 Prozent sogar häufig.
Mehr als jeder fünfte Deutsche (22 Prozent) sieht zu niedrige Tabaksteuern als Grund für hohe Rückfallquoten bei Rauchern. 39 Prozent befürworten die Erhöhung der Tabaksteuer, um Raucher zum Aufhören zu bewegen.
Um Raucher auf dem Weg in ein qualmfreies Leben zu unterstützen, sieht die Mehrheit (66 Prozent) das soziale Umfeld in der Pflicht, Aufhörwilligen beizustehen - nur jeweils 11 Prozent sehen diese Unterstützerrolle bei Ärzten und Krankenkassen. 37 Prozent sprachen sich laut BKK für drastischere Warnhinweise auf Tabakprodukten aus. Als erfolgsversprechendend für einen Rauchstopp bewerten die Befragten jedoch kostenlose Beratungsangebote (74 Prozent).
Stress ist Schuld, nicht das Rauchen
Die Interessen der Zigaretten-Konzerne sind klar: Sie wollten einen Hebel schaffen, um den Menschen wissenschaftlich fundiert vermitteln zu können, dass Stress - und nicht etwa das Rauchen - Schuld an Herzkrankheiten und Krebs sei.
Aber der Reihe nach: In den Dreißigerjahren wurde der Arzt Hans Selye, ein gebürtiger Österreicher, als "Vater des Stress" bekannt. Nach seinem Studium der Medizin wanderte er in die USA aus und lehrte seit 1933 Biochemie an der McGill Universität. Dort experimentierte er mit Ratten, indem er sie allen möglichen Torturen aussetzte - von extremer Kälte bis zu giftigen Substanzen, die er ihnen spritzte. Wenn er die Ratten danach aufschnitt und ihre Organe untersuchte, fand er immer dieselben Auswirkungen: zum einen war ihr Magen voller Geschwüre und zum anderen war die Nebennierenrinde vergrößert. Von ihr weiß man heute, dass sie das Stress-Hormon Adrenalin ausschüttet.
Fakten zum Tabakkonsum
Knapp 30 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 79 Jahren rauchen. Zwischen den Geschlechtern gibt es Unterschiede: 33 Prozent der Männer und 27 Prozent der Frauen greifen zu Zigarette und Co.
Quelle: dpa, Stand 2014
Je höher der soziale Status, desto geringer ist laut Studien das Interesse am Nikotin.
Bei 996 Zigaretten lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Verbrauch im Jahr 2013 - ein Rückgang von 1,2 Prozent im Vergleich zu 2012. Im Jahr 2000 hatten die Deutschen noch 1699 Zigaretten pro Kopf konsumiert. Der Gesamtverbrauch lag 2013 bei 80,3 Milliarden. Hinzu kamen knapp 3,6 Milliarden Zigarren und Zigarillos.
Bis zu 120.000 Menschen in Deutschland sterben jährlich an den Folgen, mehr als 3000 durch Passivrauchen. EU-weit sterben pro Jahr fast 700.000 Raucher.
Gut 24,3 Milliarden Euro gaben die Deutschen im vergangenen Jahr für Tabakwaren aus.
Die Einnahmen aus der Tabaksteuer lagen 2013 bei 14,1 Milliarden Euro. Damit ist sie ist nach der Energiesteuer (39,4 Milliarden Euro) die zweitergiebigste der Verbrauchsteuern.
Rund 200 Millionen Euro jährlich investiert die Tabakindustrie in die Werbung.
Tabakindustrie förderte die Forschung
Selye entwickelte so die Idee, dass Stress Gewebeveränderungen und Hormonausschüttungen verursacht, die wiederum zu Krankheit und Tod führen können. Durch eigene Forschungsarbeiten sowie die Auswertung fremder Forschungen konnte er schließlich bei vielen Krankheiten Stress-Komponenten ausmachen, von Herzproblemen über Entzündungen und Allergien bis zu Erkältungskrankheiten. Die These von Stress und seinen gesundheitsschädlichen Auswirkungen war geboren.
Mark Petticrew und sein Team fanden nun heraus, dass gerade diese einflussreichen Forschungen massiv durch einen bestimmten Interessenverband gefördert wurde: die Tabakindustrie. Im Fall von Selye hätten die Konzerne den Inhalt und auch den Wortlaut seiner wissenschaftlichen Abhandlungen geprüft und überarbeitet.
Ein Konstrukt der Tabakindustrie
"Anwälte der Tabakindustrie beeinflussten den Inhalt seiner Schriften, sie schlugen ihm auch Themen vor, die er kommentieren sollte", sagt Petticrew. In 1500 Artikeln und über dreißig Büchern machte Selye seine Ideen publik. Er erlangte internationale Bedeutung und großen Respekt als Ikone auf seinem Gebiet und wurde zehn Mal für den Nobelpreis nominiert.
"Seinen Einfluss auf unsere Vorstellung von Stress kann man gar nicht genug betonen", so Petticrew. Laut seiner Studie steckten die Konzerne große Mengen Geld in Selyes Forschung. Die Tabak-Konzerne "halfen ihm, seinen Vorstellungen Gestalt zu geben, und er half ihnen mit ihren Ideen", analysiert Petticrew.
Charakter Schuld an Krankheit
Hans Selye war nicht der Einzige, der intensive Forschung auf dem Gebiet betrieb und damit Schlagzeilen machte: In den Fünfzigerjahren bildeten die beiden US-amerikanischen Kardiologen Meyer Friedman und Ray Rosenman die Vorstellung einer "Typ-A-Persönlichkeit". Getrieben von Ruhelosigkeit, Wettbewerbsstreben und Feindseligkeit hätten diese Charaktere - allen voran Männer -, ein doppelt so hohes Risiko für koronare Herzerkrankungen. In Abgrenzung dazu beschrieben sie die "Typ-B-Persönlichkeiten", die sich durch mehr Gelassenheit und Zufriedenheit auszeichnen.
"Die Typ-A-Persönlichkeit ist zu großen Teilen ein Konstrukt der Tabakindustrie", sagt Petticrew. Geld in diese Forschung zu pumpen, lohnte sich für die Tabakindustrie, denn sie konnte den Menschen so nicht nur vermitteln, wie gut eine "entspannende" Zigarette doch für sie ist. Sie konnte diese wissenschaftlichen Daten auch wunderbar erwähnen, wenn sie gegen die Klagen von Lungenkrebskranken vor Gericht argumentieren musste. Es sei eben die Persönlichkeit der Erkrankten und nicht ihre Kettenrauer-Gewohnheiten, die Schuld an ihrem Lungenkrebs seien.
Verdrehender Effekt
Der US-Tabakkonzern Philip Morris, damaliger Hauptsponsor der Forschungen und weltgrößter privater Tabak-Konzern, wollte laut NPR keinen Kommentar abgeben. Ein Sprecher sagte lediglich, die Forschungen seien schon sehr lange her.
Zwar betont Petticrew: Man dürfe nun nicht behaupten, dass alle Forschung zum Thema Typ-A-Persönlichkeiten manipuliert worden sei. Jedoch seien gerade die ersten Pionierstudien von den Konzernen beeinflusst gewesen. Von den Studien, die einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Erkrankungen zeigen - und es gibt Petticrew zufolge nur vier - hatten die Forscher bei dreien Beziehungen zu oder monetäre Unterstützung von der Tabak-Industrie. Dies habe einen verdrehenden Effekt auf die Forschung auf diesem Gebiet gehabt, sagt Petticrew. Ein Effekt, der komplett ignoriert wurde - bis jetzt.