Einfluss der Tabakindustrie Die unbekannte Geschichte der Stressforschung

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Ein Konstrukt der Tabakindustrie

"Anwälte der Tabakindustrie beeinflussten den Inhalt seiner Schriften, sie schlugen ihm auch Themen vor, die er kommentieren sollte", sagt Petticrew. In 1500 Artikeln und über dreißig Büchern machte Selye seine Ideen publik. Er erlangte internationale Bedeutung und großen Respekt als Ikone auf seinem Gebiet und wurde zehn Mal für den Nobelpreis nominiert.

"Seinen Einfluss auf unsere Vorstellung von Stress kann man gar nicht genug betonen", so Petticrew. Laut seiner Studie steckten die Konzerne große Mengen Geld in Selyes Forschung. Die Tabak-Konzerne "halfen ihm, seinen Vorstellungen Gestalt zu geben, und er half ihnen mit ihren Ideen", analysiert Petticrew.

Charakter Schuld an Krankheit

Hans Selye war nicht der Einzige, der intensive Forschung auf dem Gebiet betrieb und damit Schlagzeilen machte: In den Fünfzigerjahren bildeten die beiden US-amerikanischen Kardiologen Meyer Friedman und Ray Rosenman die Vorstellung einer "Typ-A-Persönlichkeit". Getrieben von Ruhelosigkeit, Wettbewerbsstreben und Feindseligkeit hätten diese Charaktere - allen voran Männer -, ein doppelt so hohes Risiko für koronare Herzerkrankungen. In Abgrenzung dazu beschrieben sie die "Typ-B-Persönlichkeiten", die sich durch mehr Gelassenheit und Zufriedenheit auszeichnen.

"Die Typ-A-Persönlichkeit ist zu großen Teilen ein Konstrukt der Tabakindustrie", sagt Petticrew. Geld in diese Forschung zu pumpen, lohnte sich für die Tabakindustrie, denn sie konnte den Menschen so nicht nur vermitteln, wie gut eine "entspannende" Zigarette doch für sie ist. Sie konnte diese wissenschaftlichen Daten auch wunderbar erwähnen, wenn sie gegen die Klagen von Lungenkrebskranken vor Gericht argumentieren musste. Es sei eben die Persönlichkeit der Erkrankten und nicht ihre Kettenrauer-Gewohnheiten, die Schuld an ihrem Lungenkrebs seien.

Mehr Frauen sterben an Folgen des Rauchens
Frau raucht eine Zigarette Quelle: dpa
Das Volksleiden: Rückenschmerzen gehören in Deutschland zu den häufigsten Gesundheitsbeschwerden. Forscher der Northwestern University (USA) fanden nun heraus, dass Raucher im Vergleich zu Nichtrauchern ein um das Dreifache erhöhtes Risiko haben, an chronischen Rückenschmerzen zu erkranken. Studienautor Bogdan Petre erklärt: "Wir haben festgestellt, dass Rauchen die Art und Weise beeinflusst, in der das Gehirn auf Schmerzen im Rücken reagiert." Auf Hirnscans der rauchenden Patienten stellten die Forscher eine Veränderung der Areale fest, die für Sucht- und Lernverhalten zuständig sind. Die Kommunikation dieser Hirnregionen sei für die Entwicklung eines chronischen Schmerzes kritisch, stellten die Wissenschaftler fest. Chronischer Schmerz und Suchtverhalten hingen eng zusammen. Antientzündliche Medikamente konnten zwar die Schmerzen erleichtern, waren aber nicht in der Lage, die Aktivität der verantwortlichen Hirnregionen zu ändern. Nur wer während der Studie freiwillig mit dem Rauchen aufhörte, konnte sein Risiko absenken. Quelle: dpa
Passivrauchen: Raucher gefährden auch ihre Mitmenschen, denn der blaue Dunst schadet jedem, der ihn einatmet. Jährlich sterben weltweit mehr als 600.000 Menschen an den Folgen des Passivrauchens. Besonders betroffen sind Kinder. Selbst, nachdem sich der Rauch verzogen hat, sind die Schadstoffe noch stundenlang in der Luft, fanden Forscher des Berkeley Lab heraus. Sie lagern sich in Teppichen, Polstern oder Tapeten ab. Auch 18 Stunden, nachdem die letzte Zigarette geraucht wurde, fanden die Forscher noch immer eine ganze Reihe gesundheitsgefährdender Stoffe. Es reicht also nicht, nur in der Gegenwart anderer Menschen nicht zu rauchen. Auch die Luft in Räumen ist noch lange belastet. Quelle: dpa
Rauchen ist das Gesundheitsrisiko Nummer eins: Jeder sechste der jährlich rund 850.000 Toten in Deutschland ist laut Statistik an den Folgen des Rauchens gestorben. Raucher verkürzen ihre durchschnittliche Lebenserwartung um fünf, ambitionierte Tabakkonsumenten sogar um neun Jahre. EU-weit sterben pro Jahr fast 700.000 Raucher an den Folgen ihres Konsums. Quelle: dpa
Rauchen begünstigt viele Krebsarten: Jeder, der raucht, hat ein zweimal höheres Risiko an Krebs zu erkranken als Nichtraucher. Etwa 90 bis 95 Prozent der erwachsenen Lungenkrebspatienten sind oder waren Raucher.  Das Risiko, an Mundhöhlen-Krebs zu erkranken, steigt durch regelmäßigen Tabakkonsum um den Faktor 27, bei Kehlkopfkrebs um den Faktor 12. Durchschnittlich rauchte jeder Deutsche im Jahr 2013 996 Zigaretten. Im Jahr 2000 lag der Pro-Kopf-Konsum noch bei 1699 Zigaretten pro Jahr. Quelle: dpa
Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Schlaganfälle und Herzinfarkte verursachen die meisten Toten in Deutschland. Raucher trifft es besonders oft, Herzinfarkte vor dem 40. Lebensjahr betreffen fast ausschließlich Raucher. Ihr Risiko ist drei- bis viermal so hoch wie das von Nichtrauchern. Denn der Tabakkonsum verengt die Blutgefäße, lässt den Blutdruck steigen und schränkt die Leistungsfähigkeit des Herzens ein. Quelle: dpa
Frauen erhöhen durch Nikotin-Konsum ihr Risiko für Brustkrebs, Gebärmutterhalskrebs, Osteoporose oder Unfruchtbarkeit. Vor der Menopause versechsfacht sich das Risiko für Raucherinnen, an einem Herzinfarkt zu sterben. Weniger als jede fünfte deutsche Frau ab 15 Jahren konsumiert regelmäßig Zigaretten und Co. Quelle: dpa

Verdrehender Effekt

Der US-Tabakkonzern Philip Morris, damaliger Hauptsponsor der Forschungen und weltgrößter privater Tabak-Konzern, wollte laut NPR keinen Kommentar abgeben. Ein Sprecher sagte lediglich, die Forschungen seien schon sehr lange her.

Zwar betont Petticrew: Man dürfe nun nicht behaupten, dass alle Forschung zum Thema Typ-A-Persönlichkeiten manipuliert worden sei. Jedoch seien gerade die ersten Pionierstudien von den Konzernen beeinflusst gewesen. Von den Studien, die einen Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Erkrankungen zeigen - und es gibt Petticrew zufolge nur vier - hatten die Forscher bei dreien Beziehungen zu oder monetäre Unterstützung von der Tabak-Industrie. Dies habe einen verdrehenden Effekt auf die Forschung auf diesem Gebiet gehabt, sagt Petticrew. Ein Effekt, der komplett ignoriert wurde - bis jetzt.

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