Entscheidungsmacher-Sonderpreisträger Drosten „Viele wären über Wochen oder Monate ausgefallen“

Christian Drosten erklärt im Interview, wie wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse sind, um Einschränkungen auch im Nachhinein zu legitimieren – und was diejenigen vernachlässigen, die den Lockdown im Frühjahr für zu drastisch halten.

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Christian Drosten ist einer der Entdecker des Coronavirus – und auch deshalb in der aktuellen Krise einer der gefragtesten Experten. Seit 2017 leitet er an der Charité in Berlin das Institut für Virologie. Das Interview können Sie hier auch als Video sehen.

WirtschaftsWoche: Herr Drosten, welche Entscheidung ist Ihnen zuletzt schwer gefallen?
Christian Drosten: Das ist schwer zu beantworten. Im Rahmen von Forschungsprojekten treffe ich natürlich ständig Entscheidungen oder helfe Menschen mit Entscheidungen. Aber was die Coronapandemie angeht, da kann ich nur die Hintergrundinformationen liefern. Zusammen mit anderen. Die Entscheidungen trifft die Politik. Und ich glaube, es ist auch wichtig zu wissen, dass jeder einzelne in seinem Alltag Entscheidungen trifft. Das sind zum Teil harmlose Entscheidungen. Zum Teil sind es Entscheidungen, die Infektionen verhindern und damit auch beeinflussen, ob wir die Pandemie kontrollieren werden.

Sie sind in dieser Debatte eine der prominentesten Figuren.
Das Erstaunliche ist, dass das Werkzeug, also die Informationen, die sowohl die Politik wie auch der einzelne Bürger für seine Entscheidungen braucht, häufig eben doch rein wissenschaftliche Information sein kann.

Manche Leute erstellen sich, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen, detaillierte Listen, andere gehen lieber mal spazieren, lassen alles sacken und entscheiden aus dem Bauch heraus. Glauben Sie, dass in den vergangenen Monaten mehr Menschen versuchen, eine Situation rational zu durchdringen, ehe sie eine Entscheidung treffen?
Ich glaube, dass man mit dieser gesamten Situation nur rational umgehen kann.

Aber wir sehen in der Debatte doch auch, dass enorm viele Emotionen im Spiel sind.
Aus dem Bauch heraus habe ich Angst, mich irgendwo zu infizieren, und gehe da lieber nicht rein in den Raum. Das sind sicherlich Bauchentscheidung. Aber alles, was darüber hinausgeht, muss sich schon auf Informationen stützen. Es gibt leider eine zunehmende Zahl von Menschen, doch immer noch eine Minderheit, die Entscheidungen auch ablehnen, Informationen ablehnen. Ich kann da nur versuchen, einen Teil zu dieser Debatte beizutragen. 

„Keine der Maßnahmen war falsch“

Können wissenschaftliche Informationen auch helfen, Entscheidungen im Nachhinein nochmal zu bewerten und zu rechtfertigen?
Ja, klar. Ich bin, gerade auch aus der retrospektiven Betrachtung heraus, davon überzeugt, dass Deutschland das im Frühjahr richtig gemacht hat. Sowohl bei der Entscheidung für die Kontaktsperren als auch all das, was als Lockdown zusammengefasst wird. Keine der Maßnahmen war falsch, wie sich inzwischen herausgestellt hat, auch anhand von wissenschaftlichen Daten.

Gerade am Lockdown üben Wirtschaftsvertreter immer wieder Kritik.
Manche behaupten, dass bestimmte Dinge nicht hätten sein müssen. Das stimmt einfach nicht. Und das lässt sich auch nicht belegen. Leute, die das Wirtschaftliche in den Vordergrund stellen, sagen ja gerne: In weiten Bevölkerungskreisen wäre dieses Virus nicht sehr tödlich. Und dabei vernachlässigen sie viele Aspekte, die die Wissenschaft mehr und mehr belegen kann: Das Sterben an diesem Virus ist bei weitem nicht alles. Auch in gesunden erwachsenen Altersgruppen hat es gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit - also genau bei denjenigen, die in den Unternehmen so wichtig sind. Wenn wir dieses Virus lange durch die Bevölkerung hätten durchlaufen lassen, dann hätten wir auch sehr, sehr hohe Krankenstände gehabt. Und sehr lange Krankschreibungen.

Was die Wirtschaft ebenfalls geschwächt hätte.
Genau. Und das ist ein Faktor, der in solchen Diskussionen häufig komplett vergessen wird. Man muss eben auch sagen: Vergesst nicht diejenigen, die infiziert worden wären als junge Leute! Die wären nicht einfach nur mal kurz harmlos mit einem Schnupfen erkrankt, sondern viele von denen wären Wochen oder Monate ausgefallen.

Nun sind Sie zwar Virologe, aber trotzdem hatten auch Sie im März längst noch nicht alle Erkenntnisse zum Coronavirus. Wie gehen Sie als Wissenschaftler mit Zweifeln um?
In der wissenschaftlichen Arbeit versucht man, Dinge, die nicht wasserdicht sind, über einen unabhängigen Weg zu bearbeiten. Es ist immer gut, wenn man auf zwei oder drei Arten zum selben Ergebnis kommt. Das ist aber leider auf den Alltag nicht übertragbar, zumindest nicht in dieser Situation. Wir mussten im Frühjahr einfach das nehmen an Informationen, was vorhanden war, zusammentragen und aufbereiten. Die Frage ist natürlich: Hätte man beim Aufbereiten der Informationen etwas anders machen können?

Und? Hätten Sie?
Ich glaube, man muss betonen, wo etwas unsicher ist. Da muss man sagen, dass man das nicht weiß. Aber man darf davor die Augen nicht verschließen. Und was auch wichtig ist: Man muss eine einfach Sprache benutzen, die kein Expertenwissen verlangt. Sie muss im Prinzip dieselbe sein vor einer Gruppe von Politikern wie in einer Kindersendung im Radio. Aber das ist natürlich nur ein Ideal. Das ist ja nicht immer möglich. Dennoch finde ich, dass ein klarer Zugang zur Information, auch über die Sprache, für das Treffen einer Entscheidung enorm wichtig ist. Weil das so eine Aufgeräumtheit liefert.

Wie mutige Entscheidungen die Wirtschaft formen

Ist das ein Plädoyer an die Wissenschaft, sich besser zu erklären?
Durchaus, aber auch an den Journalismus. 

Angesichts steigender Infektionszahlen fürchten sich viele Eltern vor erneuten Schulschließungen, die Wirtschaft wiederum sorgt sich vor einem zweiten Lockdown. Wie blicken Sie auf die nächsten Wochen?
Was wir im Moment brauchen, ist so eine gespannte Aufmerksamkeit. Wir sind in Deutschland ja schon jetzt in einer Situation, wo wir etwas kontrollieren können. Wir haben da wirklich eine ganz reale Chance. Es ist nicht so, dass es jetzt wieder wie im März kommen muss. Wir wissen schon ganz schön viel, und wir machen auch Sachen, die wir im Frühjahr nicht gemacht haben und nicht machen konnten.

Woran denken Sie da?
An das Tragen von Masken in Räumen beispielsweise, und zwar auch im Arbeitsleben, wo man einfach inzwischen weiß, dass das wirksam ist. Insofern blicke ich jetzt weder mit Sorge noch mit Pessimismus in den Herbst, aber auch nicht mit Optimismus, sondern eher mit so einer gespannten Aufmerksamkeit. Jetzt haben wir die Möglichkeit, die Pandemie zu kontrollieren. Wenn wir nichts machen, wird auch wieder der Bedarf kommen zu korrigieren. Das müssen wir verhindern.

Was können Sie, was kann jeder einzelne dazu beitragen?
Ich als Wissenschaftler mit einer gewissen Medienpräsenz, die ich inzwischen ja habe, versuche, den Leuten einfach Informationen zu geben, damit sie im Alltag diese kleinen Entscheidungen richtig treffen. Also eben nicht zu sagen, ich trage eine Maske nur da, wo man es sieht, sondern auch dort, wo man es nicht sieht – einfach weil es notwendig ist. Ich will ein Verständnis vermitteln, damit die Leute bestimmte Alltagsentscheidungen treffen können: In welchen Raum gehe ich rein? Wie viele Leute lade ich ein?

Oder auch: Erlaube ich mir eine Reise in den Herbstferien. Werden Sie in den Urlaub fahren?
Wir besuchen die Großeltern. Und dann machen wir noch mal ein verlängertes Wochenende, wo wir uns hier in der Nähe mal in einem Häuschen eingemietet haben. Aber wegfliegen? Nein, das werde ich nicht.


Der Sonderpreis geht in diesem Jahr an Christian Drosten. Er hat in den vergangenen Monaten sehr vielen Menschen durch konstruktive Einordnungen, Erklärungen und Empfehlungen Zuversicht gegeben. Aus diesem Anlass wurde dieses Gespräch geführt.

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