Gehirnforschung Ich weiß, was du denkst

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Langer Weg bis zur Alltagstauglichkeit

So groß die Fortschritte sind, noch ist der Weg zum Massenprodukt weit. Die Hauben sind anfällig und unansehnlich mit ihren Kabeln, das Kontakt-Gel für die Elektroden verschmiert die Haare, der Aufbau für jeden Einsatz dauert eine Stunde. Zudem muss die Software langwierig an jeden Patienten angepasst werden, bis sie das Signalwirrwarr im EEG versteht.

Die Forscher arbeiten daher intensiv an trockenen Elektroden und schonenderen Implantaten, die auf der Hirnrinde aufliegen und nicht im Inneren des Gehirns stecken. Doch bis sie marktreif sind, wird noch einige Zeit vergehen.

Und natürlich stellt sich die Frage nach dem Recht auf Privatsphäre. Die durchaus bedroht ist, wie der Oxforder Informatiker Ivan Martinovic 2012 in einer aufsehenerregenden Studie zeigen konnte: Er versuchte, mittels EEG-Hauben die Geheimzahlen der Konten seiner Probanden zu ermitteln. In 20 Prozent der Fälle schaffte er es, die erste PIN-Ziffer auf Anhieb richtig zu bestimmen. Allerdings: Alle 28 Teilnehmer sollten während des Versuchs nur an den Zahlencode denken, ohne ihre Kooperation wäre Martinovics Attacke auf die Gedankenfreiheit nicht gelungen. Zudem hat es bisher noch niemand geschafft, den Inhalt komplexer Gedanken zu entziffern.

Was aber auch bereits in Ansätzen funktioniert: die Leistungsfähigkeit des Hirns von außen zu steigern und damit ins Denken einzugreifen. Martinovics Oxforder Kollege, der Neuropsychologe Roi Cohen Kadosh, hat dazu einen schwachen Strom in bestimmte Hirnregionen geschickt, daraufhin konnten Kinder mit einer Lernschwäche nach einigem Üben Matheaufgaben schneller lösen. Anderen Forschern gelang es, das Erinnerungsvermögen zu verbessern. All das sind noch sehr grobe Versuche, das Denken zu lenken. Aber ein Anfang.

Es gilt, wie bei jeder neuen Technik, die Risiken gegen die Chancen abzuwägen. Und Regeln festzulegen. Damit die Verbindung ins Gehirn nicht missbraucht wird, sondern sie das Leben Schwerkranker verbessert – wie auch das Gesunder.

Hilfe bei monotonen Jobs

So will eine Reihe von Neuroforschern unseren Arbeitsalltag erleichtern. Vergangenes Jahr startete am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation ein Projekt, um mittels EEG zu messen, wie sich Menschen bei der Interaktion mit Computern oder Assistenzsystemen im Auto fühlen. Mit dabei: Autozulieferer Bosch. Wird erkennbar, dass die Konzentration einer Testperson nachlässt, soll sich die Technik daran anpassen, etwa indem sie bei der Arbeit mit Texten die Schrift vergrößert. Werden weitere Werte wie Herzschlag oder Leitfähigkeit der Haut erfasst, können sich die Maschinen noch besser auf den Menschen einstellen. All das könnte bei monotonen Jobs oder langen Autofahrten hilfreich sein. Erste Produkte soll es 2017 geben.

Noch ist offen, wie ALS-Patient Leusing jenseits der aufwendigen Laborversuche in seinem Alltag von den Erkenntnissen der Neuroforscher profitieren wird. Das ist dem ehemaligen Sozialarbeiter klar. Mitgemacht hat er dennoch, um zu helfen, „dass vollständig Gelähmte irgendwann wieder kommunizieren können“. Denkbar ist das.

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