Noch vor wenigen Jahren sah das ganz anders aus. Forscher zogen sich scharenweise aus dem Feld zurück. Kaum ein Investor oder Pharmamanager hätte noch einen Cent auf diese in den Neunzigerjahren hochgejubelte Technik gesetzt. Das Problem: In den ersten euphorischen Jahren waren die Genfähren, mit denen die Mediziner das Erbgut in den Kern menschlicher Zellen bugsieren, alles andere als sicher: Sie luden die Gene mitunter an den falschen Stellen ab, aktivierten Krebsgene oder lösten heftigste Abwehrreaktionen des Körpers aus – einige Patienten starben sogar. Zudem gibt es die theoretische Möglichkeit, mit diesem Verfahren Ei- und Spermazellen zu manipulieren und so Designerbabys zu schaffen, mit ganz anderen Erbanlagen als ihre Eltern – was die große Mehrzahl der Forscher und Unternehmer der Branche heute kategorisch ablehnt.
Nach den Pannen waren die Behörden in Europa und Nordamerika extrem vorsichtig geworden. „Die Methode stand vor dem Aus, bevor sie jemand richtig nutzen konnte“, erzählt Wolfgang Uckert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gentherapie. Inzwischen haben die Forscher allerdings eine ganze Reihe neuer Viren als Gentransporter rekrutiert, die sehr viel sicherer sind als die ersten Modelle.
Die Entwicklung der Gentherapie
Es ist der erste offiziell genehmigte Gentherapieversuch: French Anderson behandelt am Nationalen Gesundheitsinstitut der USA die vierjährige Ashanti DeSilva. Sie leidet an einem angeborenen Immundefekt (SCID) und muss in einem Isolierzelt leben, um sich vor Erregern zu schützen. Die von Viren in Ashantis Zellen transportierten Gene helfen. Zugleich bricht eine Debatte los, ob Genreparaturen an Embryonen verboten werden sollen.
In Europa behandelt Claudio Bordignon am Mailänder San Raffaele Telethon Institute for Gene Therapy SCID-Kinder erfolgreich per Gentherapie. Der Erwartungsdruck wächst.
Der 18-jährige Jesse Gelsinger stirbt bei einem Gentherapieversuch am Humangenetischen Institut der University of Pennsylvania. Er litt an einer milden Form einer erblichen Stoffwechselkrankheit und hatte sich als Freiwilliger gemeldet. Das Immunsystems seines Körper reagierte so heftig auf die Genfähre, dass er an Multiorganversagen starb. Im Nachhinein wurde klar, dass die Reaktion absehbar gewesen war, Studienleiter James Wilson ihn aber trotzdem behandelte. Der verlor seinen Job als Institutsdirektor, die Universität bezahlte 500.000 Dollar Strafe.
Alain Fischer und Kollegen behandeln am Necker Hospital in Paris SCID-Kinder. Der Immundefekt ist damit behoben, aber bei einigen der jungen Patienten aktiviert die Genfähre ein Krebsgen, sie erkranken an Leukämie. Ein Kind stirbt daran. Die Ärzte können die anderen Betroffenen retten, diese sind auf Dauer von ihrem Immundefekt geheilt.
China lässt die Therapie der Sibiono GeneTech, Shenzhen, zu. Sie bringt das Wächtergen p53 in Krebszellen, was diese in den Selbstmord treibt.
Die texanische Biotech-Firma Introgen zieht ihren Antrag für eine p53-Therapie bei der europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zurück, weil ihr die Insolvenz droht. Der britische Anbieter Ark Therapeutics zieht den Antrag für eine andere Krebstherapie zurück. Die EMA war nicht zu überzeugen, dass die Vorteile der Behandlung deren Risiken überwiegen.
Die EMA lässt mit Glybera die Gentherapie der niederländischen Uniqure gegen eine seltene Stoffwechselkrankheit zu.
Glybera kommt in Deutschland auf den Markt. Preis: eine Million Euro.
Der Job eines Virus ist es, andere Organismen zu infizieren, sprich Zellen zu entern und das eigene Erbgut in deren Kern zu bringen. Der Grund: Da Viren ihre Gene nicht selbstständig vervielfältigen können, müssen sie die Zellen der von ihren befallenen Menschen dazu bringen, es für sie zu tun. Sonst können sie sich nicht vermehren. Genau diesen Mechanismus nutzen Forscher und schieben den Viren wie einem trojanischen Pferd das heilsame Erbgut unter. Dabei stutzen sie die Viren im Labor aber so zurecht, dass sie nicht mehr krank machen.
Die Entwickler von Uniqure haben in Studien gezeigt: Die neuen Genfähren sind sicher, und die neue Therapie ist wirksam. Damit besteht zum ersten Mal Hoffnung auf Heilung für Menschen, die an der erblichen Fettstoffwechselerkrankung Lipoproteinlipase-Defizienz leiden. Sie müssen sich ihr Leben lang völlig fettfrei ernähren, weil ihr Körper Butter, Öl und Co. nicht abbauen kann. Das Leiden ist extrem selten: Bei einer Million Menschen treten nur ein bis zwei Fälle auf. Das sind gerade einmal 80 bis 160 Menschen in Deutschland.
Nehmen sie versehentlich doch kleinste Mengen Fett zu sich, bekommen sie starke Bauchschmerzen. Langfristig entzündet sich die Bauspeicheldrüse, was lebensbedrohlich sein kann. Geradezu normal können dagegen jene Patienten leben und essen, denen Ärzte in den Glybera-Versuchen einmal eine Dosis der Virusfähre mit dem fehlenden Gen gespritzt haben. Selbst nach sechs Jahren noch.
Für Uniqure-Chef Aldag ist das der unschlagbare Vorteil gegenüber herkömmlichen Therapien: „Einmal gegeben, funktioniert die Gentherapie viele Jahre, möglicherweise sogar ein Leben lang.“ Das ist wunderbar für die Geheilten, macht es aber kompliziert, einen Preis festzusetzen. Denn kassieren kann Uniqure nur einmal.