Die Zwillinge Lulu und Nana könnten in die Geschichtsbücher eingehen: Selten hat eine verkündete Geburt unter Forschern wie Laien weltweit für solche Aufregung gesorgt. Von einem „Super-GAU“ für die Wissenschaft spricht der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock. Und die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates (EGE), Christiane Woopen, fordert ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. „Die Büchse der Pandora wurde geöffnet“, warnen mehr als 120 chinesische Wissenschaftler.
„Zwei wunderschöne kleine chinesische Mädchen namens Lulu und Nana kamen vor einigen Wochen weinend und so gesund wie jedes andere Baby zur Welt“, verkündet He Jiankui von der Southern University of Science and Technology in Shenzhen auf der Internet-Plattform YouTube. Er hat demnach bei einer künstlichen Befruchtung die Genome der Kinder manipuliert. Mit der Genschere Crispr/Cas9 inaktivierte er in den Embryonen das Gen für den Zellrezeptor CCR5. Der ist das wichtigste, aber nicht das einzige Einfallstor für das HI-Virus in Zellen des Körpers. Der Eingriff solle die Kinder später vor einer möglichen Infektion mit dem Aids-Erreger schützen, argumentiert He auf YouTube.
Vieles ist sonderbar an seinem Vorgehen – sofern es überhaupt stimmt. Etwa, dass er die Nachricht nicht in einem Fachjournal oder auf einem Kongress vorstellt, sondern per Internet der Welt verkündet. Oder auch, dass er seiner Uni kontroverse Schritte - das Einpflanzen manipulierter Embryonen, die Schwangerschaft und die Geburt der Zwillinge – offenbar verheimlicht hat. Die Hochschule äußerte sich „zutiefst schockiert“ und distanzierte sich von He.
In vielen Ländern - aber nicht in China - ist die Genomeditierung von Keimzellen an Menschen verboten. Aus gutem Grund: Die Folgen von Crispr/Cas9-Eingriffen sind noch weitgehend unbekannt. Lulu und Nana könnten gravierende Nachteile davontragen - und an ihre Nachkommen vererben.
Chinas Regierung hat mittlerweile ebenfalls reagiert und eine Untersuchung angeordnet. Die Lokalregierung der Provinz Guangdong, wo der Forscher nach eigenen Angaben seine Experimente durchgeführt hat, wurde zu einer „unverzüglichen Untersuchung“ aufgefordert. Das teilte die Nationale Gesundheitskommission in Peking am Tag nach der Veröffentlichung mit. Der Fall müsse in Übereinstimmung mit den Gesetzen behandelt werden, die auf dem Grundsatz basieren, für die Gesundheit der Menschen Verantwortung zu tragen.
He behandelte nach eigenen Angaben sieben Ehepaare mit unerfülltem Kinderwunsch. Dabei manipulierte er mit der Genschere Crispr/Cas9 insgesamt 16 Embryonen, 11 davon wurden sechs Frauen eingepflanzt. Letztlich gab es – nach bisheriger Kenntnis – eine Geburt. Allerdings sind wohl nur bei einem der Kinder beide Genkopien für den CCR5-Rezeptor inaktiviert.
Crispr und Co: Wie Genscheren funktionieren
Crispr ist die Abkürzung für „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“. Bei der sogenannten gezielten Mutagenese wird beispielsweise mit der Genschere Crispr die DNA gezielt an einer vorherbestimmbaren Stelle geschnitten. Die Zelle repariert daraufhin den DNA-Strang selbst. Dabei kann sich die DNA-Sequenz etwas ändern. Gene können so gezielt verändert oder auch ausgeschaltet werden. Mit Genscheren sollen gezielte Änderungen im Erbgut erreicht werden, ohne dass artfremde DNA eingefügt wird.
Der zweite - schneidende - Teil der Gen-Schere ist das Enzym Cas9. Es zerschnipselt an der angesteuerten Stelle das Erbgut, ursprünglich das des Eindringlings.
Die Gen-Schere Crispr/Cas9 geht auf einen Abwehrmechanismus von Bakterien zurück. Bereits in den Achtzigerjahren fanden Forscher auffällige, sich wiederholende Sequenzen im Bakterien-Erbgut. Später stellte sich heraus: Die Bakterien schützen sich vor eindringenden Viren, indem sie Schnipsel aus deren Erbgut in ihre eigene DNA einbauen. So können sie den Eindringling bei einer erneuten Attacke wiedererkennen und gezielt ansteuern. Das passiert, indem die eingebauten DNA-Sequenzen aktiviert und in sogenannte RNA-Erbgutmoleküle umgeschrieben werden.
Zwei Forscherinnen, die französische Mikrobiologin Emmanuelle Charpentier und die US-Biochemikerin Jennifer Doudna, begannen, die molekulare Such- und Schneide-Maschine gezielt für Arbeiten am Erbgut zu nutzen. Ihre Studie erschien 2012 im Magazin „Science“. Mit dem Mini-Werkzeug können Gene verändert, an- oder ausgeschaltet und durch fremde Bestandteile ergänzt oder ersetzt werden.
Fehler im Genom von Lebewesen könnten damit korrigiert werden, so einfach, wie man Tippfehler verbessert. Forscher hoffen, so auch Erbkrankheiten, Krebs oder Aids zu heilen und ertragreiche Pflanzen zu kreieren oder solche, die resistenter gegen Dürreperioden sind. Geschädigtes Erbgut wird ausgeschnitten und gegen gesundes ersetzt. Mit dieser Technik können aber auch mit vergleichsweise geringem Aufwand beispielsweise Getreidesorten widerstandsfähiger gemacht oder die Zusammensetzung von Nahrungs- und Futterpflanzen optimiert werden.
Seit 2013 weiß man, dass Crispr/Cas9 auch beim Menschen funktioniert. Mittlerweile werden zudem andere Enzyme außer Cas9 als Schnittwerkzeug getestet. Außerdem zeigte sich, dass Crispr nicht nur DNA, sondern auch die etwas andere RNA schneiden kann. Somit kommt die Gen-Schere auch für den Kampf gegen gefährliche Viren wie HIV infrage. Es gibt aber noch ungelöste Probleme, etwa bei der zuverlässigen Reparatur der zerschnittenen Sequenzen, und große Unsicherheiten ob der Langzeiteffekte.
Crispr/Cas9 wird seit 2012 eingesetzt und hat Forschungslabore weltweit im Sturm erobert. Denn damit können Forscher Erbgut relativ zielgenau durchtrennen und bestimmte Gene inaktivieren. So verändern sie inzwischen Genome von Mikroorganismen und Pflanzen – und im Rahmen von Gentherapien auch von Menschen. Der therapeutische Einsatz an Spermien, Eizellen und Embryonen steht allerdings auf dem Index – nicht zuletzt weil unklar ist, welche Effekte die Technik an anderen Stellen des Erbguts hat.
„Die Genomeditierung mit Crispr/Cas9 ist zwar einfach, aber nicht sehr präzise, das System macht Fehler“, sagt Joachim Hauber vom Heinrich-Pette-Institut in Hamburg. Man könne nicht ausschließen, dass die Genschere auch an anderen Stellen ins Genom eingreife. Zudem könne die Zelle beim Verbinden der abgeschnittenen DNA-Enden Fehler machen. Dies könne sich erst nach Jahren zeigen. „Die beiden Kinder können diese Veränderungen an ihre Nachkommen weitergeben“, mahnt Hauber. „Ein solches Vorgehen verurteile ich aufs Schärfste.“
Zumal der von He angeführte Nutzen - bei einem Kind ein Teilschutz vor HIV – äußerst fragwürdig ist. „Die Inaktivierung des CCR5-Rezeptors hat eine Feigenblatt-Funktion“, sagt Hauber. „Das bringt den Kindern keinen Vorteil.“ Stattdessen drohten sogar Nachteile: Studien deuten darauf hin, dass etwa eine West-Nil-Virus-Infektion bei Menschen ohne CCR5-Rezeptor deutlich schwerer verläuft.
Ethiker greifen He scharf an. Der Erlanger Theologe Dabrock spricht von einem „schamlosen, unverantwortlichen Humanexperiment“, die Kölner Ethikerin Woopen von einer Verletzung der Menschenrechte. Die Fachwelt reagiert ebenfalls fassungslos: „Direkte Versuche am Menschen können nur als verrückt beschrieben werden“, schreiben 122 chinesische Forscher. „Die Büchse der Pandora wurde geöffnet, und wir haben möglicherweise eine Chance, sie zu schließen, bevor der Schaden irreparabel ist.“
Auch zwei der drei Crispr/Cas9-Entdecker kritisieren He scharf. Jennifer Doudna von der University of California in Berkeley spricht von einer dringenden Notwendigkeit, den Einsatz bei Embryonen zu beschränken. Feng Zhang vom Massachusetts Institute of Technology fordert sogar ein Moratorium für das Einpflanzen genomeditierter Embryonen, weil der mögliche Nutzen die Risiken bei weitem nicht rechtfertige.
Dass He die Geburt der Mädchen ausgerechnet jetzt verkündet hat, ist vielleicht kein Zufall: Am Dienstag sollte in Hongkong ein Genomforscher-Kongress beginnen, zu dem unter anderem Doudna und Zhang erwartet werden. Dort soll He, der Patente auf Verfahren hält und ein Gentechnik-Unternehmen besitzt, am Mittwoch einen Vortrag halten. Die Aufmerksamkeit der Welt ist ihm gewiss.