Vergessen Sie Steve Jobs oder Mark Zuckerberg. Der wahre Held der modernen Arbeitswelt heißt Hans-Dietrich Genscher. Hirnforschung sei Dank erfahren wir endlich, warum der ewige FDP-Außenminister immer den gleichen gelben Pullunder trägt: Lange vor Apple-Gründer Jobs (stets im schwarzen Rollkragenpullover) und Facebook-Chef Zuckerberg (nie ohne graues T-Shirt) muss Genscher die neuronalen Prozesse erkannt haben. Anders ist nicht zu erklären, dass er morgens bei der Wahl der Oberbekleidung stets die gleiche Entscheidung traf.
Klingt abwegig? Ginge es nach der amerikanischen Beraterin Tara Swart, wäre Genscher ein Paradebeispiel für angewandte Hirnforschung im Arbeitsalltag. Swart vermarktet ihr Buch „Neuroscience for Leadership“, will also Führungskräften erklären, wie sie mithilfe von „neuesten Erkenntnissen der Hirnforschung“ zu besseren Managern werden. Ein simpler Tipp: Schafft euch morgendliche Routinen und spart eure geistige Energie für wirklich wichtige Entscheidungen. Macht es wie Zuckerberg und Jobs oder wenigstens wie US-Präsident Barack Obama –und verwendet möglichst wenig Energie auf die Kleidungswahl. Denn: Es ist wissenschaftlich erwiesen.
Angst um den Ruf der Hirnforschung
Tipps wie diese bereiten nicht nur der Modeindustrie Kopfschmerzen. Hirnforscher Peter Mohr, Professor für Neuroökonomie an der Freien Universität Berlin und Leiter der Arbeitsgruppe für Neuroökonomie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), sieht eine Gefahr für seine ganze Branche: „Wenn allgemeine Erkenntnisse überverkauft werden, schadet das dem Ruf der Hirnforschung und lässt sie unseriös erscheinen.“ So ist es bei dem Rat zur einheitlichen Arbeitsuniform: Zwar zeigen Studien, dass eine geringere Zahl von Entscheidungen bessere Entscheidungen ermöglicht. Daraus auf die Zahl der Farben im Kleiderschrank zu schließen, ist reine Spekulation.
Wann Überzeugungen zu Handlungen führen
Ohne einen erkennbaren, individuellen, hohen und relativ sicheren Gewinn, ändert kein Mensch sein gewohntes Verhalten. Dieser Gewinn muss und sollte nicht nur materiell sein. Materielle Belohnungen wirken schnell und sättigen schnell. Sozialer Gewinn (zum Beispiel Anerkennung) wirkt nachhaltiger. Die einzige nicht sättigende Belohnung ist die intrinsische, die man sich selbst gibt.
Ins Blaue hinein ändern wir unser Leben nicht gern. Die Umsetzung der Neuerung muss daher klar vorgezeichnet und praktikabel sein.
Pioniere können und wollen nur die wenigsten Menschen sein. Die meisten anderen brauchen Vorbilder, denen sie nacheifern können. Und die müssen vor allem glaubwürdig sein.
Die erwartbaren Widerstände gegen das neue Leben sollten nicht zu groß sein. Das Festhalten an Gewohntem trägt eine starke Belohnung in sich. Der Anreiz muss doppelt so stark sein, wie die Bremskräfte.
Die Lücke in der Forschung ist das Geschäftsmodell von selbsternannten Experten, die ihre Ideen unter dem Schlagwort „Neuroleadership“ vermarkten. Sie verstehen sich als Lautsprecher der zurückhaltenden Wissenschaftler und nehmen für sich in Anspruch, das Beste aus zwei Welten zu vereinen. In Wirklichkeit aber kreieren sie eine Scheinwelt.
Der amerikanische Unternehmensberater David Rock hat das Konzept 2006 entworfen und das „Neuroleadership Institute“ gegründet. Weder von ihm, noch von seinen Nachahmern sind wissenschaftliche Aufsätze über Hirnforschung zu finden. Unbeirrt davon verspricht Rocks Ratgeberbuch die Erkenntnis darüber, „wie wir mithilfe der Neurowissenschaft die Mechanismen unseres Gehirns effektiv nutzen und so zu Spitzenleistungen gelangen können“.
Hirn-Drinks und neurologische Führungskunst
Anscheinend gibt es genügend kaufkräftige Kunden, die solchen Versprechen glauben. Rock und Swart haben jeweils ihre eigenen Beratungsfirmen und bieten Seminare an, die mehrere Tausend Dollar kosten – pro Tag. Ihre deutschen Kollegen heißen Sebastian Spörer, Unternehmensberater, oder Gerald Hüther, Pop-Hirnforscher. In Weiterbildungs-Workshops für Manager sprechen sie über „Wertschöpfung unter neuro-psycho-sozio-endokrin-immunologischen Aspekten“ (Spörer) und „Neurowissenschaft und Führungskunst“ (Hüther). Tara Swart verkauft auf ihrer Homepage sogar ein Getränk, das auf Basis von neuesten Erkenntnissen aus der Na-Sie-wissen-schon-Forschung gebraut wurde. Die Inhaltsstoffe: grüner Tee, Gurkenwasser und Kokosnussöl. Der Preis für den Neuro-Drink: acht Euro für 0,25 Liter.
Wo Neuro drauf steht, muss die Wahrheit drin sein
Immerhin ist es wissenschaftlich tatsächlich belegt, warum sich solche Wucherei verkaufen lässt: Hirnforscher der amerikanischen Universität Yale haben 2008 herausgefunden, dass der Stempel „neurowissenschaftlich erwiesen“ vor allem jene Menschen überzeugt, die sich gar nicht mit Hirnforschung auskennen. Sie glauben: Wo Neuro draufsteht, muss die Wahrheit drin sein. Dazu noch ein paar kompliziert aussehende Abbildungen des Gehirns – fertig ist die Neuro-PowerPoint-Präsentation. Der Vorteil: Was wirklich dahinter steckt, versteht niemand.
Ein Blick in die populärwissenschaftlichen Abteilungen in deutschen Buchhandlungen zeigt, dass kaum ein Forschungszweig vor der Neuromanie sicher ist. Es gibt Literatur über Neuro-Philosophie, Neuro-Epistemologie, Neuro-Ergonomie und Neuro-Kunstgeschichte. Hauptsache irgendwas mit Hirn. Im Bereich Management lässt sich die angeblich heilende Wirkung der Hirnforschung besonders gut zu Geld machen, weil sie verspricht, den nach Fakten gierenden Alphatieren endlich eine objektive und empirisch belegte Anleitung für Führungsverhalten zu geben.
Leider gibt es einen Haken an der Sache: Die Hirnforschung ist ein sehr junger Forschungsbereich und steht ganz am Anfang. „Wir betreiben hauptsächlich Grundlagenforschung“, betont Hirnforscher Mohr. „Es ist momentan unmöglich, durch Wissen über die Funktion des Gehirns das Hirn direkt zu manipulieren. Das wird man wahrscheinlich auch in 20 bis 30 Jahren nicht können. Denn jedes Hirn ist anders und so verschieden wie Gesichter!“
Außerdem haben neurowissenschaftliche Studien ein generelles Glaubwürdigkeitsproblem: In einem viel zitierten Aufsatz stellte die englische Psychologin Katherine Button 2013 fest, dass die meisten Hirnforschungsstudien eine schwache Aussagekraft haben – wegen einer zu geringen Zahl der Probanden.
Peter Mohr glaubt, dass die Hirnforschung trotz aller Kritik einige mögliche Ansätze bieten kann, die sich im Arbeitsalltag anwenden lassen: Eine in vielen Studien belegte Erkenntnis ist etwa, dass ein menschliches Gehirn das ganze Leben lang anpassungsfähig bleibt. Wer sich viel mit intellektuell anspruchsvollen Aufgaben beschäftigt, hält den Geist fit. Auch die physische Verfassung ist wichtig für klares Denken, weil der Körper bei guter Kondition mehr Ressourcen für das Denken einsetzen kann. Das aber ahnte schon der antike Philosoph Juvenal, als er uns seinen berühmtesten Lehrspruch hinterließ: Mens sana in corpore sano. Über gelbe Pullunder schrieb er leider nichts.