IBM-Forschungschef Gil „Ob Düngemittel oder Medikamente gegen Viren - wir stehen am Anfang der nächsten Computerrevolution“

Darío Gil: „Das Konzert der Computer möglichst effizient und wirkungsvoll zu orchestrieren“, ist seine Aufgabe. Quelle: IBM

Darío Gil ruft nicht weniger als den „Beginn der nächsten Computerrevolution“ aus. Seine Forscherkollegen von IBM sollen neuronale Konzepte in die IT-Welt übertragen. Die Computer der Zukunft könnten die Grundlagenforschung und die Produktentwicklung um den Faktor zehn beschleunigen.

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Das Quantum System One ist der erste kommerzielle IBM-Quantencomputer außerhalb der USA, und er steht in Ehningen, rund 30 Kilometer südwestlich von Stuttgart. WirtschaftsWoche-Redakteur Thomas Kuhn war bei der Einweihung dabei und sprach mit IBM-Forschungschef Darío Gil.

Herr Gil, in Ehningen geht IBMs erster kommerzieller Quantencomputer außerhalb der USA in Betrieb. Verglichen mit dem klassischen Computerbau befinden wir uns damit irgendwo in den frühen Sechzigerjahren, als Rechner in Unternehmen noch eine absolute Rarität waren. Warum also der ganze Trubel um die neuen Rechner?
Darío Gil: Weil es für Forschungseinrichtungen und Unternehmen eminent wichtig ist, sich diese revolutionäre Technologie möglichst früh zu erschließen. Quantenrechner arbeiten so grundlegend anders als alle herkömmlichen Computer. Das braucht ein ganz neues Denken und eine ganz neue Art, Programme zu entwickeln. Und es braucht Phantasie für die Potenziale, die in der Technologie stecken. Das Verständnis dafür müssen wir heute entwickeln und nicht erst damit anfangen, wenn die Rechner in ein paar Jahren „fertig“ und etabliert sind.

Hapert es da noch? Vergangene Woche erst haben zehn große Konzerne in Deutschland das Qutac-Konsortium gegründet, um die Einsatzmöglichkeiten von Quantenrechnern zu erforschen.
Keine Frage, solche industriellen Initiativen sind extrem wichtig, um die Rechner für den künftigen Einsatz zu erschließen. Aber sie sind nur ein Weg, das zu tun. Wir müssen auch an anderen Stellen ansetzen, beispielsweise in der Ausbildung. Deshalb ermöglichen wir es Studierenden und Forschenden schon seit Jahren, im Rahmen eines offenen Angebots Algorithmen für Quantencomputer zu entwickeln und auf unseren Forschungsmaschinen kostenfrei zu testen. Mehr als eine Million Lernende nutzen diese Möglichkeit heute schon. Da beginnen Technologie und Know-how, miteinander zu verschmelzen.

Gesetzt den Fall, das funktioniert. Wann werden Quantencomputer die heutigen Rechner ablösen?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Nicht, weil ich nicht an die Technologie glaube, sondern weil die Frage an der Anwendungsrealität vorbeigeht.

IBM und die Fraunhofer-Gesellschaft nehmen in der Nähe von Stuttgart den leistungsstärksten kommerziellen Quantencomputer außerhalb der USA in Betrieb. Doch an entscheidender Stelle hakt es noch.
von Thomas Kuhn

Inwiefern?
Weil es gar nicht darum geht, dass eine Technologie die andere ablöst, sondern ergänzt. So braucht es beispielsweise Computer klassischer Bauart, um die Daten und Algorithmen überhaupt erst so aufzubereiten, dass die auf Quantenmaschinen genutzt und verarbeitet werden können. Gleiches gilt anschließend bei der Analyse der Ergebnisse. Auch das sind Aufgaben, für die herkömmliche Rechner prädestiniert sind. Das heißt, die Herausforderung der Zukunft wird sein, das Konzert der Computer möglichst effizient und wirkungsvoll zu orchestrieren. Und das beschränkt sich ja nicht bloß auf binäre und Quantensysteme.

Sondern?
Im Grunde gibt es drei entscheidende Computerkonzepte, die in Zukunft nebeneinander existieren werden. Im Fall herkömmlicher Rechner und ihrer Milliarden von Schaltkreisen in den Chips geht es um die Synergie aus Elektronik und Informationsverarbeitung. Quantencomputer machen physikalische Phänomene für die Informatik nutzbar. Und daneben forschen wir und andere gerade intensiv am „Neuromorphic Computing“, einem Konzept, das biologische Prinzipien und die IT verbindet.

Wie bitte?
Es geht darum, neuronale Konzepte, so wie wir sie aus dem menschlichen Gehirn kennen, in die IT-Welt zu übertragen. Die Potenziale, die in diesem Ansatz stecken, sind nicht minder vielversprechend als jene, die im Quantencomputer stecken. Und auch bei neuromorphen Chips führt kein Weg am Zusammenspiel mit herkömmlichen Computern vorbei. Es geht also nicht um ein Entweder-oder, sondern ein intelligentes Sowohl-als-auch.

Wie soll das aussehen?
Das muss sich in der Zukunft noch erweisen. Wahrscheinlich wird es nicht den einen optimalen Weg für alle Fragestellungen geben. Aber wir haben das mal am Beispiel der Materialforschung durchgespielt. Auf der Suche nach besonders lichtempfindlichen Materialien beispielsweise für die Energieerzeugung durch Photovoltaik lassen sich die bestehenden Forschungsansätze mithilfe von KI-Software auf Hochleistungscomputern klassischer Bauart analysieren und auswerten. Basierend auf diesen Ergebnissen könnten Algorithmen auf neuromorphen Prozessoren Hypothesen zu möglichen vielversprechenden Werkstoffen erstellen. Ob und welche physikalischen Eigenschaften diese Materialien dann einmal haben könnten, ließe sich schließlich mit Quantencomputern besser, schneller und genauer simulieren als es mit allen anderen Rechnern bisher denkbar wäre.

IBM und die Fraunhofer-Gesellschaft haben in Ehningen den leistungsstärksten kommerziellen Quantencomputer außerhalb der USA in Betrieb genommen. Quelle: IBM

Noch ist das aber nicht mehr als eine Vision, oder?
Der Fall als solcher ist durchaus realistisch. Bis wir ihn auch praktisch umsetzen können, werden sicher noch ein paar Jahre vergehen. Aber es wird nicht bloß viel schneller laufen wird als damals bei den klassischen Computern. Ich bin mir sicher, dass wir auch den wissenschaftlichen Prozess selbst drastisch beschleunigen können: Wenn das Konzert der Rechner erst einmal eingespielt ist und die Fachleute in Unternehmen und Forschungseinrichtungen diese Instrumente beherrschen, dann sollte es möglich sein, sowohl die Grundlagenforschung als auch die Produktentwicklung um den Faktor zehn zu beschleunigen. Ob es um neue Akkumaterialien, um neue Düngemittel oder neue Medikamente gegen Viren geht, ich bin überzeugt, dass wir gerade am Beginn der nächsten Computerrevolution stehen.

Mehr zum Thema: IBM und die Fraunhofer-Gesellschaft haben in Ehningen den leistungsstärksten kommerziellen Quantencomputer außerhalb der USA in Betrieb genommen. Doch damit diese Supercomputer ihr volles Potenzial ausspielen können, fehlt es noch an entscheidender Stelle.

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