Das Ergebnis ist beeindruckend: Gegenüber früheren Prognose-Verfahren, die oft nicht viel mehr als die Verkaufszahlen des Vorjahres berücksichtigten, kann Otto heute die Verkäufe je nach Produktkategorie um 20 bis 40 Prozent genauer vorhersagen. Die Folge: Die Produkte sind nicht mehr zu früh ausverkauft – und bleiben trotzdem auch seltener im Lager liegen. „Das ist gut für unsere Kunden“, sagt Michael Heller, Otto-Bereichsvorstand Categories und zuständig für Einkauf, Vertrieb und Angebotssteuerung, „es ist gut für uns, und nicht zuletzt auch gut für die Umwelt.“
Hinter Ottos Orakel, das inzwischen beim Tochterunternehmen Blue Yonder seinen Dienst tut, steht ein Algorithmus namens Neurobayes, eine komplizierte Rechenfolge, die der Physiker Michael Feindt vor Jahren entwickelt hat. Es ging dem Forscher damals nicht um Artikel aus dem Online-Shop, sondern um Atome: Feindt, Leiter des Instituts für experimentelle Kernphysik an der Universität Karlsruhe, baute Neurobayes mit dem Ziel, Ereignisse zu prognostizieren, die bei der Kollision von Atomen im Teilchenbeschleuniger am CERN nahe Genf stattfinden, dem weltweit größten seiner Art.
Im Jahr 2012 entdeckten die CERN-Forscher das lang-gesuchte Higgs-Teilchen, nicht zuletzt auch dank des Neurobayes-Algorithmus.
Das alles war sechs Jahre zuvor noch nicht zu erahnen, als Otto-Mitarbeiter auf Feindts Entwicklung stießen. Der Konzern hatte gerade ein Team ausschwärmen lassen, um nach Software zu suchen, mit der sich das Sortiment des Versenders präziser steuern lassen würde. „Es war absehbar, dass herkömmliche Prognoseverfahren der zunehmenden Komplexität des Geschäftsmodells auf Dauer nicht mehr gerecht werden können“, sagt Vorstand Heller. „Daher war es uns wichtig, neue Wege zu gehen und zu schauen, welche Alternativen denkbar sind.“
Drei verschiedene Programme traten im Wettbewerb gegeneinander an, gefüttert mit reichlich Daten von Otto. „Feindts Ergebnisse waren um Längen besser als die der anderen“, erinnert sich Otto-Datenexperte Sinn. Das Management entschied sich dazu, den Atom-Algorithmus für den Versandhandel umzuschreiben. Eine Entscheidung ohne Erfolgsgarantie.
Doch sie sollte sich auszahlen. Die Restbestände zum Saisonende sanken um bis zu 20 Prozent. „Und unsere Mitarbeiter“, sagt Otto-Experte Sinn, „können sich jetzt ganz auf die Vermarktung unserer Waren konzentrieren.“