Für ein völlig neuartiges, optisch wenig ansprechendes Produkt war das eine Menge schlechte Publicity. Es sah bereits so aus, als ob der Neuerwerb aus Amerika ein Flop würde. Doch dann kam Parmentier. Der französische Pharmazeut hatte sich schon seit Längerem mit dem Nährwert von Gemüsen beschäftigt. Dass er jedoch den der Kartoffel kennen- und schätzen lernte, war keine ganz freiwillige Entscheidung. Der Militärapotheker geriet 1756 in preußische Kriegsgefangenschaft. Internierten feindlichen Soldaten pflegte man schlimmsten, praktisch ungenießbaren Schweinefraß vorzusetzen – und das war damals vor allem die nach landläufiger Meinung für den menschlichen Verzehr ungeeignete Kartoffel. Wochenlang setzten die Preußen Parmentier auf Knollendiät. Dabei stellte der Apotheker fest, dass die Kartoffel weitaus weniger übel war, als ihr Ruf, im Gegenteil: Obwohl der Franzose sich fast ausschließlich von Kartoffeln ernährte, konnte er keinerlei körperliche Mangelerscheinungen feststellen.
Kaum heimgekehrt, machte er sich daran, die Kartoffel neu zu erfinden. Damals wie heute lösen Innovationen in der Regel nur dann Revolutionen aus, wenn sie mit guter PR-Arbeit für das noch unbekannte Produkt einhergehen. Antoine Parmentiers Kartoffelmarketing taugt da bis heute als Lehrbuchbeispiel: Der Apotheker veranstaltete VIP-Kartoffeldinner für die Pariser High Society, um seinem Produkt mehr Glamour zu verleihen. Der Apotheker kreierte zudem das wohl erste Testimonial der Wirtschaftsgeschichte: König Louis XVI. bürgte für die neue Speise, indem er eine violette Kartoffelblüte am Revers trug, auch seine Gattin Marie-Antoinette zeigte sich mit einem Bouquet. Die Kartoffel wurde so in Versailles zum letzten Schrei.
Die ersten Raubkopierer
Nachdem er den Hochadel in der Tasche hatte, wandte sich Parmentier dem weitaus renitenteren gemeinen Volk zu, das sich der Knolle immer noch standhaft verweigerte. Er versuchte, den Bauern den Mund wässrig zu machen, und setzte dazu auf eine Mischung aus Geheimniskrämerei und Indiskretion, wie sie Steve Jobs kaum besser hätte inszenieren können: Außerhalb von Paris ließ Parmentier Kartoffelfelder anlegen. Tagsüber wurden diese von Soldaten bewacht, was die Bevölkerung annehmen ließ, dort befinde sich etwas Wertvolles. Nachts zogen die Truppen ab. Die Bauern schlichen sich im Schutze der Dunkelheit auf die Felder und stahlen die Knollen. Und siehe da: Geklaut schmeckten sie viel besser. Parmentier hatte diesen Mundraub einkalkuliert. Mehr noch: Er wusste, dass die Knolle sich bei steigender Nachfrage rasant verbreiten würde, so rasch wie heutzutage das Viralvideo einer tanzenden Katze. Denn Kartoffeln sind ein bisschen wie Daten: Sie lassen sich beliebig oft kopieren. Die diebischen Bauern taten genau das. Aus den Mundräubern auf den Kartoffelfeldern wurden so die ersten Raubkopierer.
Innovationen benötigen häufig eine komplementäre Technologie, die ihnen nach der ersten Initialzündung eine rasante Verbreitung sichert – im Falle des Internets erfüllte der Web-Browser diese Funktion, beim Auto war es die asphaltierte Straße. Die Komplementärtechnologie zur Kartoffel war der Guano. Vogelkot, das klingt aus heutiger Sicht nicht nach High Tech. Doch als der Deutsche Justus Liebig die erntesteigernde Kraft des Guano im Jahr 1840 entdeckte, war Kunstdünger noch unbekannt. Das feinkörnige Gemenge aus verschiedenen Phosphaten und Nitraten ließ Pflanzen explosionsartig wachsen, viel schneller als andere natürliche Dünger.