"Wenn ein Alligator Sie beißen will, können Sie ihm das Maul zubinden. Wir haben einen anderen Ansatz gefunden: Wir stecken ihm einen Stock ins Maul, damit er es nicht mehr schließen kann." So erklärt Dan Theodorescu vom Krebsforschungszentrum der Universität von Colorado seine Forschung. Er und sein Team fanden einen neuen Ansatz, um bestimmte Krebsformen in ihrem Wachstum zu verlangsamen.
Dabei geht es um das sogenannte Ral-Protein. Es handelt sich um ein Enzym, das dafür bekannt ist, eine wichtige Rolle in der Signalweiterleitung in und zwischen Zellen zu spielen. So erklärt es Nikolas Gunkel, Leiter der Wirkstoffforschung am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) Heidelberg.
Enzyme sind Katalysatoren für chemische Prozesse, die vielfältige Stoffwechselvorgänge in unserem Körper beschleunigen oder überhaupt erst ermöglichen. Ral kommt zwar auch im gesunden Körper vor. Ist es jedoch übermäßig aktiv, gilt es als sogenanntes prototypisches Onkogen. Darunter versteht man den Inbegriff eines Krebs-Gens. Das sind Teile unseres Erbguts, die den Übergang von einem normalen Zellwachstum zu ungebremstem Tumorwachstum fördern.
Übermäßig aktives Ral kann also das Wachstum von verschiedenen menschlichen Krebs-Erkrankungen beschleunigen. Experten sprechen dabei von einem "Treiber". Darunter sind etwa Bauchspeicheldrüsen-, Prostata-, Lungen-, Darm- und Blasenkrebs. Bislang gibt es keine Medikamente, die dazu in der Lage sind, das schädliche Ral-Protein zu blockieren.
Formen der Krebs-Therapie
Bei einer Operation wird der Tumor entfernt, häufig auch die umliegenden Lymphknoten um eine Streuung zu vermeiden. Eine Operation allein reicht meist nicht aus.
Quelle: Bayerische Krebsgesellschaft
Dabei kommen bestimmte Medikamente, sogenannte Zytostatika, zum Einsatz. Sie können bösartige Tumoren zerstören oder zumindest ein weiteres Wachstum verhindern. Die Medikamente greifen in den Zell-Stoffwechsel ein. Weil sie aber nicht zwischen gesunden Zellen und Tumorgewebe unterscheiden können, kommt es zu Nebenwirkungen, etwa Haarausfall, Erbrechen, Immunschwäche. Weil sich das Normalgewebe aber schneller regeneriert, wirkt die Chemotherapie auf Krebszellen stärker.
Der Tumor wird vor, nach oder anstelle einer Entfernung mit energiereicher Strahlung beschossen. Die Bestrahlung kommt nur lokal zum Einsatz und kann das Wachstum des Tumors bremsen, indem die Tumorzellen zerstört werden.
Es handelt sich um einen jungen Therapieansatz, auch "targeted therapy" (zielgerichtete Therapie) genannt. Hierunter fällt die in der US-Studie erforschte Blockierung des Ral-Proteins. Spezifische Wirkstoffe sollen zielgenau die Krebszellen angreifen.
Hierbei werden Antihormone gegeben. Sie können vor allem Tumoren der Geschlechtsorgane und Brustkrebs im Wachstum stoppen oder verlangsamen.
Hierunter versteht man die Überwärmung des Körpers oder einzelner Körperteile. Dies kommt beispielsweise ergänzend zu einer Strahlentherapie zum Einsatz, und kann ihre Wirkung verstärken.
Die Studie der Forscher um Theodorescu, die im Magazin "Nature" veröffentlicht wurde, zeigt nun einen neuen Therapieansatz: Die Wissenschaftler untersuchten das Ral-Protein zunächst im Computermodell. Ist es inaktiv, zeigt sich eine Aushöhlung in seiner Struktur - das Maul des Alligators, wie Theodorescu es umschreibt. Wird Ral aktiviert, verschwindet diese Einkerbung - das Maul schließt sich. Dahinter steckt eine Strukturänderung des Moleküls.
So kamen die Forscher auf die Idee, nach einem "Stock" zu suchen, um das Maul des Alligators offen zu halten - und so die Aktivierung des Proteins zu verhindern. Nach hunderttausenden Versuchen fanden sie 88 scheinbar geeignete Substanzen. Mit dieser Erkenntnis gingen sie zu Laborversuchen an menschlichen Krebszellen über. In mehreren Versuchsreihen reduzierten die Wissenschaftler die Auswahl schließlich auf eine Handvoll von Substanzen, die die Aktivierung von Ral in Lungenkrebs-Zellen verhindern konnte.
Tumore wachsen deutlich langsamer
Doch was im Reagenzglas funktioniert, muss nicht unbedingt im Körper mit seiner Vielzahl sich gegenseitig bedingender Stoffwechselprozesse funktionieren. Und während im Reagenzglas Stoffe unmittelbar an und in die simplen Zellklumpen gegeben werden können, sieht das bei komplexen Tumoren, die sich im Körper gegen seine Abwehr durchgesetzt haben, anders aus.
In einem nächsten Schritt erforschten die Wissenschaftler die vielversprechendste Substanz mit dem Namen BQU57 an Mäusen. Den Tieren wurden menschliche Lungenkrebszellen eingepflanzt, um zu testen, ob die neue Substanz auch in ein Tumorgewebe eindringen kann.
Bereits nach einigen Stunden konnten die Forscher feststellen, dass BQU57 es tatsächlich schaffte, in das Gewebe einzudringen. Beobachtungen in den folgenden Tagen zeigten, dass die Tumore deutlich langsamer wuchsen als in einer unbehandelten Vergleichsgruppe von Mäusen.
Hoffnung auf neue Medikamente
Die Wissenschaftler hoffen, aus dieser Erkenntnis ein neues Medikament für die Krebstherapie entwickeln zu können: Einen spezifischen Wirkstoff, der das Tumor- und Metastasen-befeuernde Ral-Molekül daran hindern kann, aktiv zu werden. Im Vergleich etwa zu einer Chemotherapie, die nicht nur speziell die Krebszellen angreift und zahlreiche Nebenwirkungen haben kann, wäre das für den kranken Körper ungleich schonender.
Bei diesem Ansatz, spezifische Wirkstoffe für ein ganz bestimmtes Ziel im Stoffwechsel zu finden, sprechen Wissenschaftler von sogenannten allosterischen Inhibitoren. Ein Inhibitor ist ein Stoff, der etwa ein Enzym hemmen kann. Dazu muss man wissen, dass grundsätzlich zwischen kompetitiven und allosterischen Inhibitoren unterschieden wird. Ein kompetitiver Inhibitor kann im aktiven Zentrum des Enzyms binden. Er nimmt so dem Stoff, der dort eigentlich umgesetzt werden soll, den Platz weg.
Das Problem: Die Wirkung ist oft unspezifisch. Das ist eine generelle Schwierigkeit in der Wirkstoffforschung: Inhibitoren hemmen nicht nur das eine, gewünschte Enzym, sondern können auch mehrere verwandte Mitglieder einer Enzymklasse blockieren.
"Wir packen das Enzym am Genick"
Allosterisch bedeutet nun soviel wie "an anderer Stelle". Dabei lagert sich ein Inhibitor nicht am aktiven Zentrum des Enzyms sondern an einer anderen Position an. Er verändert dadurch die räumliche Struktur des Enzyms und verhindert so, dass es wie gewohnt funktionieren kann. Der Vorteil: "Allosterische Inhibitoren packen das Enzym bildlich gesprochen am Genick", erläutert Gunkel. "Diese Angriffspunkte außerhalb seines aktiven Zentrums sind in der Regel einzigartig."
Allosterische Inhibitoren sind zwar per se nichts neues. Derzeit werde aber in der Krebsforschung verstärkt nach diesen Stoffen gesucht, erklärt Gunkel weiter. Die Klasse, zu der das nun von der US-Forschergruppe geknackte Ral-Protein gehört, ist in der Krebsforschung hochinteressant. "Das ist toll, ein guter Anfang", sagt Gunkel. "Man muss allerdings auch sagen, dass es noch ein weiter Weg hin zu einem einsatzfähigen Medikament ist - sowohl, was die Zeit als auch was das finanzielle Investment betrifft", schränkte er ein. "Hier steht keine neue Behandlungs- oder Heilungsmöglichkeit unmittelbar vor der Tür, sondern ein interessanter Ansatz, den es zu beobachten gilt".
Bis zu einem einsatzfähigen Medikament könnten also noch Jahre vergehen. Auch Theodorescu sagte, dass noch viel Forschungsarbeit und Tests nötig seien. Unter anderem müsse eine mögliche Giftigkeit der Substanz BQU57 überprüft und ausgeschlossen werden. Auch die beste Art der Gabe von BQU57 - etwa oral oder intravenös - müsse noch erforscht werden.
"Dennoch ist diese Studie ein wertvoller erster Schritt in Richtung einer Entwicklung einer neuen Klasse therapeutischer Mittel, die Ral ins Visier nehmen", betont Theodorescu.