Ein ähnlicher Trend zeichnet sich auch in Deutschland ab. Noch nie haben die Deutschen so viele Schmerzmittel, Psychopharmaka, Blutdrucksenker und Magensäure-Hemmer geschluckt wie heute: Allein 2012 verordneten Ärzte mehr als 38 Milliarden Tagesrationen unterschiedlichster Medikamente.
2004 waren es noch 26 Milliarden – ein Anstieg von 45 Prozent in nur acht Jahren. Insgesamt gaben die gesetzlichen Krankenkassen dafür 2012 mehr als 31 Milliarden Euro aus. 1980 waren es noch knapp 7 Milliarden. Das entspricht einer Steigerung von mehr als 440 Prozent.
Gleichzeitig wird das Präparate-Arsenal wird immer größer. Schon heute stehen in Deutschland 97.800 verkehrsfähige Arzneimittel zur Verfügung, darunter 47.300 verschreibungspflichtige, 19.450 apothekenpflichtige und 29.600 freiverkäufliche Produkte. Jedes Jahr kommen im Schnitt 45 neue Wirkstoffe und Hunderte neuer Varianten verschiedener Präparate hinzu.
Unerwünschte Nebenwirkungen
Parallel dazu nahmen auch die Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) und Todesfälle erheblich zu, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zentral sammelt und registriert. Hatten Ärzte 1996 noch 5547 Komplikationen an das BfArM gemeldet, waren es 2012 bereits 24.421.
Demnach hat sich die Zahl der Berichte in diesem Zeitraum mehr als vervierfacht. Die Zahl der Fälle, die tödlich verliefen, stieg sogar von 451 auf 2425 zu. Das entspricht einer Steigerung um mehr als das Fünffache.
Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn Nebenwirkungen von Medikamenten werden in Deutschland nicht systematisch erfasst. Die Arzneimittelüberwachung stützt sich allein auf freiwillige, spontane Meldungen von Ärzten und Angehörigen anderer Gesundheitsberufe, wenn diese einen Hinweis auf spezifische Nebenwirkungen eines Medikaments sehen.
Spontanes Meldesystem
Ein solches Spontanmeldesystem hat zwar den Vorteil, dass es direkt nach Beginn der Vermarktung eines neuen Medikaments einsetzt und theoretisch alle mit Arzneimitteln behandelten Patienten umfasst. Doch die Erfahrung zeigt: Die überwiegende Zahl auftretender Nebenwirkungen – auch der tödlichen – wird von den betroffenen Patienten und ihren Ärzten nicht als solche erkannt und noch seltener werden sie dem BfArM berichtet. Dabei sind Mediziner laut ärztlicher Berufsordnung sogar zur Meldung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen verpflichtet.
Experten gehen davon aus, dass die zuständigen Stellen (neben dem BfArM zählt dazu auch die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, kurz AkdÄ) von gerade einmal zwei bis fünf Prozent aller Fälle erfahren. Das führt nicht nur dazu, dass viele Nebenwirkungen – insbesondere solche von Medikamenten, die relativ neu auf dem Markt sind – erst mit erheblicher Verzögerung bekannt werden.
Durch die spärlichen Berichte entsteht auch der trügerische Eindruck, Schäden durch Arzneimittel seien viel seltener, als es tatsächlich der Fall ist. Der Pharmakologe Peter Schönhöfer – langjähriger Mitherausgeber des industrieunabhängigen Informationsdienstes arznei-telegramm – hat 2001 ermittelt, dass hierzulande jährlich mit rund 210.000 Krankenhauseinlieferungen aufgrund schwerwiegender Arzneimittelnebenwirkungen zu rechnen ist.
Seiner Schätzung nach sind etwa 70.000 davon akut lebensbedrohend und müssen intensivmedizinisch behandelt werden; rund 16.000 dieser Fälle verlaufen tödlich. Demnach sterben in Deutschland jährlich mehr als viermal so viele Menschen an Arzneimittelnebenwirkungen wie im Straßenverkehr. Dort liegt die Zahl Todesopfer bei rund 3500 im Jahr. "Gegen diesen Missstand wird aber weitaus mehr getan", so Daniel Grandt, Vorstandsmitglied der AkdÄ.
Fachchinesisch im Beipackzettel
Der klassische Beipackzettel jedenfalls löst die Probleme nicht. Das darin enthaltene Fachchinesisch wirft für die meisten Menschen mehr Fragen auf, als es klärt. Und die lange Liste von Horrorszenarien bei etlichen Präparaten schreckt schon Gesunde von der Lektüre ab.
Umfrage in Hessen: Welche Medikamente häufig fehlen
Indikation: Bluthochdruck
Hersteller: Ratiopharm
Nennungen: 265
Indikation: Magengeschwüre
Hersteller: Heumann
Nennungen: 218
Indikation: Bluthochdruck
Hersteller: Ratiopharm
Nennungen: 215
Indikation: Schilddrüse
Hersteller: Hexal
Nennungen: 207
Indikation: Schilddrüse
Hersteller: Hexal
Nennungen: 201
Indikation: Knochenerkrankungen
Hersteller: Teva
Nennungen: 188
Indikation: Bluthochdruck
Hersteller: Ratiopharm
Nennungen: 154
Indikation: Schilddrüse
Hersteller: Merck
Nennungen: 142
Indikation: Diabetes
Hersteller: Axcount
Nennungen: 139
Indikation: Vitamin D3
Hersteller: Merck
Nennungen: 134
Was also liegt näher, als dass man – zumal als kranker, alter oder seelisch angeschlagener Mensch – die Verantwortung für Nebenwirkungen lieber dem Arzt überlässt? Schließlich ist er der Fachmann, der Patient in der Regel nicht. Aber was viele Menschen nicht ahnen: Selbst die meisten Mediziner können Nebenwirkungen oft nicht als solche erkennen. Denn das wird im Studium kaum gelehrt.
Viele Schadwirkungen von Medikamenten werden zudem erst Jahre nach Markteinführung bekannt. Und oft dauert es einige Zeit, bis die Hinweise in den Fachinformationen auftauchen.