Viele Male ist der Brüsseler Möbeldesigner Carl de Smet in seinem Leben umgezogen. Jedes Mal nervte ihn der Ab- und Aufbau seiner Möbel maßlos. Fehlende Dübel und Schrauben, komplexe Anleitungen – er war es leid. Und ersann die denkbar bequeme Alternative. Möbel, die sich selbst zusammenlegen und wieder aufstellen.
Das Ergebnis konnten die Besucher auf der Mailänder Möbelmesse 2013 bestaunen: ein Klumpen weißen Schaumstoffs, der sich in wenigen Minuten zum Sessel entfaltete. Ganz von selbst, ohne Zutun. Der Sessel und ein Stuhl mit den gleichen, fast magisch wirkenden Fähigkeiten sollen dieses Jahr auf den Markt kommen.
Ihre Wandlungsgabe verdanken sie einer außergewöhnlichen Werkstoffgattung – Materialien mit Formgedächtnis. So wie ein Chamäleon die Farbe wechselt, können diese Werkstoffe ihre Form ändern.
De Smet nutzt einen Kunststoff, ein spezielles Polyurethan des japanischen Herstellers Mitsubishi Heavy Industries. Sobald der wärmer als 70 Grad Celsius wird, schalten die Moleküle ihre Struktur um – der Sessel klappt sich auf. Da es für die Besitzer kaum praktikabel wäre, die Möbel zum Aufbauen in die heiße Sauna zu schleppen, setzt der Belgier sie unter Strom und erwärmt so das Material.
Materialien mit Gedächtnis
Was wie die verspielte Idee eines versponnenen Künstlers wirkt, sprengt in Wahrheit die Fesseln, mit denen Designer seit Jahrhunderten kämpfen. Sie müssen sich auf eine Form festlegen und können die nachträglich nur aufwendig mithilfe von Motoren oder Hydraulik ändern.
Smarte Materialien mit Gedächtnis dagegen erlauben flexible Entwürfe, die sich an wechselnde Bedingungen anpassen – fast so wie Mensch und Tier es können: Autos und Flugzeuge werden bei hohem Tempo aerodynamischer, Gebäude ändern ihre Fassade je nach Wind und Wetter.
Zudem besitzen die Werkstoffe weitere praktische Eigenschaften: Sie sind leicht, leise, brauchen kaum Energie, und sind erstaunlich kräftig. „Bezogen auf das Volumen sind sie die stärksten Antriebe, die wir kennen, leistungsfähiger als Elektro- oder Hydraulikmotoren“, sagt Holger Kunze, Chef-Mechatroniker am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik in Dresden. Ein zwei Millimeter starker Formgedächtnis-Draht etwa könne mehr als 100 Kilogramm heben. Dazu schaltet das Material mehr als 100 000-mal verlässlich zwischen zwei Zuständen um, ohne zu ermüden.
Dank dieser Eigenschaften verdrängen die cleveren Werkstoffe zunehmend energiehungrige Elektromotoren in Autos, Kameras und Haushaltsgeräten – und erschließen immer neue Märkte. Das Bochumer Start-up FG-Innovation, das Anwendungen für die Materialien in der Medizintechnik bis hin zum Automobil entwickelt, kalkuliert den Gesamtmarkt für Formgedächtnis-Technologien in Europa auf inzwischen eine Milliarde Euro im Jahr.
Es ist der Siegeszug eines Phänomens, das Wissenschaftler Mitte des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben haben: Ein Stab beispielsweise aus einem Metallgemisch krümmt sich beim Erwärmen auf einmal, lässt sich nach dem Abkühlen wieder gerade biegen – und durch Erhitzen erneut verformen. Bis heute haben Forscher nicht völlig verstanden, was in so einer Metalllegierung auf molekularer Ebene passiert.