Placebos – Medikamente, die gegen Krankheiten helfen, obwohl sie keinen Wirkstoff haben - kennen viele. Das negative Pendant dazu ist hingegen deutlich weniger bekannt: der Nocebo-Effekt.
Bereits in den 1950er Jahren wurden erste Arzneimittelstudien bekannt, bei denen Teilnehmer über Nebenwirkungen klagten, obwohl sie nicht das Medikament sondern das Scheinpräparat bekommen hatten. Für das Phänomen prägte der US-Wissenschaftler Walter Kennedy 1961 den Begriff "Nocebo". Das ist an Placebo, lateinisch für "ich werde gefallen", angelehnt und heißt: "Ich werde schaden".
So teuer sind manche Medikamente
Kosten: 1.100.000 Euro*
Hersteller: Uniqure
Therapie: Behandlung von Lipoproteinlipase-Defizienz (LPLD),einer sehr seltenen Erbkrankheit, die mit erhöhten Fettwerten im Blut einhergeht
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Quellen: Unternehmensangaben, Bestandsmarktreport
Kosten: 65.000 Euro*
Hersteller: Gilead
Therapie: Behandlung von Infektionen mit chronischer Hepatitis C
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 19.700 (Kombinationstherapie), 39.500 (Monotherapie)*
Hersteller: Abbvie
Therapie: Behandlung von rheumatoider Arthritis
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 35.000 Euro*
Hersteller: Roche
Therapie: Behandlung von HER2-positivem Brustkrebs
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 60.000 Euro*
Hersteller: Gilead
Therapie: Behandlung von Infektionen mit chronischer Hepatitis C
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 30.000 Euro*
Hersteller: Johnson & Johnson
Therapie: Behandlung von Infektionen mit Hepatitis C
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 20.000 Euro*
Hersteller: Pfizer
Therapie: Behandlung rheumatischer Erkrankungen und der Psoriasis
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 20.000 Euro*
Hersteller: MSD
Therapie: Behandlung von rheumatisch-entzündlichen Erkrankungen sowie chronisch-entzündlicher Darmerkrankungen
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 17.500 Euro*
Hersteller: UCB
Therapie: Behandlung der entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn sowie bei rheumatoider Arthritis
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
Kosten: 15.700 Euro*
Hersteller: MSD
Therapie: Behandlung von rheumatoider Arthritis, Psoriasis-Arthritis, Morbus Crohn und weitere
*pro Behandlungszeitraum bzw. Jahrestherapiekosten
„Der Nocebo-Effekt wird etwa dadurch ausgelöst, dass Patienten Ängste oder negative Erwartungen an eine Behandlung haben. Sie denken also beispielsweise von vorneherein, das werde ich nicht vertragen“, sagt Prof. Dr. Winfried Häuser vom Zentrum für Schmerzteraphie am Klinikum Saarbrücken. Die Auslöser dafür sind vielfältig. Zum Beispiel können Hinweise auf Nebenwirkungen auf Medikamenten-Beipackzetteln oder die Aufklärungsgespräche von Ärzten Ängste erzeugen, die dann zum Nocebo führen.
Durch Nocebo in Lebensgefahr
Für den Nocebo-Effekt gibt es viele Beispiele. So etwa aus einer Studie der University of Mississippi in Jackson, über die der Psychiater Roy Reeves im US-Psychatrie-Fachmagazin "General Hospital Psychiatry" berichtete. Reeves schildert darin den Fall eines 26-Jährigen, der an einer Antidepressiva-Studie teilnahm und versuchte, sich mit dem Medikament das Leben zu nehmen. Nachdem der Proband eine Überdosis des Studienmedikaments eingenommen hatte, sank sein Blutdruck lebensgefährlich tief, sodass er in der Notaufnahme behandelt werden musste.
Dort stellten die Ärzte dann überrascht fest, dass der Mann zu den Studienteilnehmern mit dem Scheinmedikament gehörte - seine Pillen also überhaupt keinen Wirkstoff enthielten. Als sie dem 26-Jährigen dies mitteilten, ging es ihm schnell wieder besser. Die Phänomene verschwanden und er konnte noch am selben Abend das Krankenhaus wieder verlassen. Der Fall ist ein Extrembeispiel, das eine Gefahrenstufe zeigt, die der Nocebo-Effekt erreichen kann.
Neben direkten Folgen kann der Nocebo-Effekt auch anderweitig ein Risiko für die Behandlung sein. „Eine Folge kann sein, dass eine sinnvolle medikamentöse Therapie wegen Nebenwirkungen, die nicht durch das Medikament sondern die Ängste des Patienten hervorgerufen werden, abgesetzt wird“, erklärt Häuser.
Wenn schon die Erwartung Schmerzen auslöst
Ein Phänomen der modernen Schmerzpsychologie, das mittlerweile von vielen Medizinern dem Nocebo-Effekt zugeordnet wird, ist die elektromagnetische Hypersensitivität. „Allein die Erwartung einer Schädigung kann tatsächlich Schmerzen oder Beschwerden auslösen, wie wir es umgekehrt im Bereich schmerzlindernder Wirkungen auch von Placebo-Effekten kennen", sagt Dr. Michael Witthöft von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Eine Studie aus dem vergangenen Jahr belegt: Selbst Medienberichte, die vor Gesundheitsrisiken etwa durch elektromagnetische Felder warnen, können den Nocebo-Effekt hervorrufen. Wer sich sorgt, dass er auf Strahlungen von Handys, Mobilfunk-Sendemasten oder WLAN sensibel reagiert, leidet häufig unter Symptomen wie Schwindel oder Kopfschmerzen. Auch brennende Haut oder ein unangenehmes Kribbeln treten bei Betroffenen auf, die glauben an elektromagnetischer Hypersensitivität zu leiden. Mit teils weitreichenden Folgen: In Extremfällen können Betroffene nicht mehr arbeiten, ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück und meiden jedwede Öffentlichkeit aus Angst vor Strahlungen.
"Tests haben allerdings gezeigt, dass Betroffene nicht unterscheiden konnten, ob sie tatsächlich elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind und dass ihre Symptome genauso von einer Scheinexposition ausgelöst werden können wie von realer Strahlung", sagt Witthöft.
Der Professor für klinische Psychologie wies dies gemeinsam mit einem Kollegen am King’s College London in einer Studie nach, an der insgesamt 147 Testpersonen teilnahmen. Eine Probandengruppe bekam dabei ein Dokumentarfilm gezeigt, der über mögliche Gesundheitsgefahren von Mobilfunk- und WLAN-Signalen berichtet. Die andere Gruppe bekam einen Bericht über die Sicherheit von Handy- und Internetdaten zu sehen. Im Anschluss daran bekamen alle Teilnehmer die Informationen, dass sie nun einem WLAN-Signal ausgesetzt würden – allerdings nur zum Schein.
Die Folge: Während die Probanden, die den generellen Daten-Bericht gesehen hatten, keinerlei Reaktionen zeigten, entwickelten 54 Prozent der Testpersonen, die den Beitrag über Gesundheitsrisiken sahen, typische Symptome. Sie klagten etwa über Kribbeln in Armen, Beinen und Füßen, Konzentrationsprobleme, Beunruhigung und Beklemmung. Zwei Personen empfanden die vermeintliche WLAN-Strahlung sogar als so stark, dass sie den Versuch abbrachen.
Die Macht der Worte
Neben Ängsten durch Beipackzettel oder Medienberichte kann aber auch medizinisches Fachpersonal den Nocebo-Effekt sehr leicht heraufbeschwören. Deshalb spielt er auch im Umgang etwa zwischen Ärzten und ihren Patienten mittlerweile eine wichtige Rolle.
Denn die Kommunikation von Ärzten und Pflegepersonal kann viele negative Suggestionen enthalten, wodurch Patienten den Nocebo-Effekt entwickeln. „Wir haben nach Metastasen gesucht – der Befund war negativ“, kann dem Patienten ebenso eine negative Botschaft vermitteln, wie der Satz „Jetzt schläfern wir Sie ein, gleich ist alles vorbei“ bei der Einleitung der Narkose. Besonders Patienten, die in einer existenziell bedrohlichen Situation sind, also zum Beispiel vor einer Operation stehen oder schwer erkrankt sind, sind dafür empfänglich.
Wer im Aufwachraum etwa gefragt wird „Ist Ihnen übel?“ geht innerlich schnell auf die Suche nach diesem Gefühl – und findet es vielleicht, obwohl es gar nicht da ist.
Beratung und Aufklärung unabdingbar
Ärzte stecken in einem weiteren Dilemma: Zum einen haben sie die Pflicht, ihre Patienten über mögliche Risiken und Nebenwirkungen der Behandlung aufzuklären. Zum anderen wollen sie aber auch jedes Risiko einer medizinischen Behandlung minimieren, wozu auch die Vermeidung des Nocebo-Effekts zählt. Also müssen Ärzte den Mittelweg finden zwischen notwendiger Aufklärung und dem Zurückhalten bestimmter Informationen zum Schutz des Patienten.
„Unter Medizinern wurde die Bedeutung einer guten, wirkungsvollen ärztlichen Gesprächsführung in den letzten Jahren erkannt und sie wird zunehmend im Studium sowie in der ärztlichen Fort- und Weiterbildung berücksichtigt“, sagt Häuser. Beratung und Aufklärung ist und bleibt unverzichtbar, sind sich die Experten einig – egal ob Pflegepersonal, Mediziner oder Apotheker.
Arzt-Patient-Kommunikation
Dabei kommt es auf die Wortwahl und den Fokus des Gesprächs an: „Bei der Aufklärung von Kunden über mögliche Nebenwirkungen können Apotheker und PTA Nocebo-Effekte reduzieren, indem sie zum Beispiel bei häufigen Nebenwirkungen davon sprechen, dass 90 bis 99 Prozent der Anwender das empfohlene Arzneimittel gut vertragen, statt zu sagen, dass bis zu zehn Prozent der Anwender Nebenwirkungen verspüren“, sagt etwa der Apotheker Dr. Chalid Ashry.
Um Nocebo-Effekte zu vermeiden, wird zudem unter anderem der Ansatz des „erlaubten Verschweigens“ diskutiert. Dabei entscheidet der Patient bevor er ein Medikament verschrieben bekommt, ob er über leichtere Nebenwirkungen informiert werden möchte oder nicht. Bei schwerwiegenden Nebenwirkungen besteht diese Option allerdings rein rechtlich nicht – dort muss in jedem Fall eine Aufklärung stattfinden. Zudem gibt es die Idee, dass Patienten eine Liste möglicher Nebenwirkungen erhalten und dann entscheiden, über welche Nebenwirkungen sie aufgeklärt werden möchten.
„Da Nocebo-Effekte leichter zu erzeugen sind als Placebo-Effekte müssen die positiven Aspekte in der Beratung stärker betont werden. Sie werden vom Patienten im Gespräch meist weniger wahrgenommen als mögliche negative Aspekte“, sagt Apothekerin Ursula Hagedorn. Natürlich müssten aber auch mögliche Risiken eines Arzneimittels bedacht werden. „Bei häufig vorkommenden Nebenwirkungen hat der Patient ein Recht auf entsprechende Information“, so Hagedorn. „Ich muss nur darauf achten, dass der Nutzen sowie die Sicherheit und Verträglichkeit des jeweiligen Medikamentes klar und verständlich aufgezeigt und damit stärker betont werden als die potenziellen Nebenwirkungen.“
Eine sinnvolle Methode eine Nebenwirkung zu therapieren, die gar nicht da ist, gibt es nicht. Am Ende sind es also nur eine bedachte Wortwahl und Fingerspitzengefühl, die den bösen Zwilling des Placebos verhindern können.