Ein Phänomen der modernen Schmerzpsychologie, das mittlerweile von vielen Medizinern dem Nocebo-Effekt zugeordnet wird, ist die elektromagnetische Hypersensitivität. „Allein die Erwartung einer Schädigung kann tatsächlich Schmerzen oder Beschwerden auslösen, wie wir es umgekehrt im Bereich schmerzlindernder Wirkungen auch von Placebo-Effekten kennen", sagt Dr. Michael Witthöft von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Eine Studie aus dem vergangenen Jahr belegt: Selbst Medienberichte, die vor Gesundheitsrisiken etwa durch elektromagnetische Felder warnen, können den Nocebo-Effekt hervorrufen. Wer sich sorgt, dass er auf Strahlungen von Handys, Mobilfunk-Sendemasten oder WLAN sensibel reagiert, leidet häufig unter Symptomen wie Schwindel oder Kopfschmerzen. Auch brennende Haut oder ein unangenehmes Kribbeln treten bei Betroffenen auf, die glauben an elektromagnetischer Hypersensitivität zu leiden. Mit teils weitreichenden Folgen: In Extremfällen können Betroffene nicht mehr arbeiten, ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück und meiden jedwede Öffentlichkeit aus Angst vor Strahlungen.
"Tests haben allerdings gezeigt, dass Betroffene nicht unterscheiden konnten, ob sie tatsächlich elektromagnetischen Feldern ausgesetzt sind und dass ihre Symptome genauso von einer Scheinexposition ausgelöst werden können wie von realer Strahlung", sagt Witthöft.
Der Professor für klinische Psychologie wies dies gemeinsam mit einem Kollegen am King’s College London in einer Studie nach, an der insgesamt 147 Testpersonen teilnahmen. Eine Probandengruppe bekam dabei ein Dokumentarfilm gezeigt, der über mögliche Gesundheitsgefahren von Mobilfunk- und WLAN-Signalen berichtet. Die andere Gruppe bekam einen Bericht über die Sicherheit von Handy- und Internetdaten zu sehen. Im Anschluss daran bekamen alle Teilnehmer die Informationen, dass sie nun einem WLAN-Signal ausgesetzt würden – allerdings nur zum Schein.
Die Folge: Während die Probanden, die den generellen Daten-Bericht gesehen hatten, keinerlei Reaktionen zeigten, entwickelten 54 Prozent der Testpersonen, die den Beitrag über Gesundheitsrisiken sahen, typische Symptome. Sie klagten etwa über Kribbeln in Armen, Beinen und Füßen, Konzentrationsprobleme, Beunruhigung und Beklemmung. Zwei Personen empfanden die vermeintliche WLAN-Strahlung sogar als so stark, dass sie den Versuch abbrachen.
Die Macht der Worte
Neben Ängsten durch Beipackzettel oder Medienberichte kann aber auch medizinisches Fachpersonal den Nocebo-Effekt sehr leicht heraufbeschwören. Deshalb spielt er auch im Umgang etwa zwischen Ärzten und ihren Patienten mittlerweile eine wichtige Rolle.
Denn die Kommunikation von Ärzten und Pflegepersonal kann viele negative Suggestionen enthalten, wodurch Patienten den Nocebo-Effekt entwickeln. „Wir haben nach Metastasen gesucht – der Befund war negativ“, kann dem Patienten ebenso eine negative Botschaft vermitteln, wie der Satz „Jetzt schläfern wir Sie ein, gleich ist alles vorbei“ bei der Einleitung der Narkose. Besonders Patienten, die in einer existenziell bedrohlichen Situation sind, also zum Beispiel vor einer Operation stehen oder schwer erkrankt sind, sind dafür empfänglich.
Wer im Aufwachraum etwa gefragt wird „Ist Ihnen übel?“ geht innerlich schnell auf die Suche nach diesem Gefühl – und findet es vielleicht, obwohl es gar nicht da ist.