Müde, erschöpft und kraftlos? Vielleicht fehlt da ein Vitamin. Oder ein Mineralstoff. Oder beides zusammen. Auch gegen erhöhten Stress oder brüchige Nägel, Haarausfall und Schlafstörungen gibt es rezeptfreie Mittel in der Apotheke, dem Supermarkt, der Drogerie oder im Internet – und die Deutschen greifen fleißig zu.
Das zeigt auch eine repräsentative Studie der Verbraucherzentrale: 20 Prozent aller Befragten haben nach eigenen Angaben in den vergangenen sechs Monaten ein Nahrungsergänzungsmittel eingenommen, 15 Prozent sogar mehrere solcher Präparate – im Glauben daran, dass die Vitamine und Co. der Gesundheit gut tun. Daran glauben knapp mehr als die Hälfte der Befragten – nämlich 51 Prozent. Frei nach dem Motto: Wo gesund draufsteht, muss auch gesund sein.
So boomt der Markt mit den vermeintlich gesundheitsfördernden Pillen: Die Deutschen haben 2016 für 1,12 Milliarden Euro Nahrungsergänzungsmittel gekauft, berechnet das Marktforschungsinstitut IMS Health für das Handelsblatt – ein Umsatzplus von sechs Prozent gegenüber dem Vorjahr. 165.000 Packungen und Fläschchen wurden verkauft. Am häufigsten kauften die Deutschen Magnesium, gefolgt von Calcium, Eisen und sonstigen Mineralstoffen, dann erst folgen die Vitamine.
Insgesamt gingen 1,6 Millionen Packungen Tabletten über die Ladentheke. Noch immer sind es die Apotheken, die den größten Anteil der Verkäufe übernehmen – rund 67 Prozent. Dann folgen Internetversand (13,7 Prozent), die Drogeriemärkte (12,3 Prozent) und der Einzelhandel (6,5 Prozent). Zahlen des Marktforschungsinstituts Nielsen für das Handelsblatt zeigen: Im Lebensmitteleinzelhandel, in Drogeriemärkten, Discountern und Supermärkten dominieren bei der Nachfrage die Eigenmarken. Rund 8500 Neuanmeldungen von Nahrungsergänzungsmitteln gibt es pro Jahr.
Hersteller Nummer eins bei Consumer-Health-Produkten ist der Pharmakonzern Merck. Es folgen Queisser Pharma, Woerwag, Hermes Arzneimittel, Protina, Sanol, Stada, Hexal und Orthomol. Die Top-Zehn-Hersteller machen laut IMS Health 46 Prozent des Umsatzes. Handelsmarken wurden im Ranking nicht berücksichtigt.
Nahrungsergänzungsmittel sind keine Medikamente, sondern fallen unter die Kategorie Lebensmittel. Deshalb unterliegen sie laxeren Vorschriften. Eine Zulassung wie bei Arzneimitteln gibt es nicht. Die Produkte werden auch nicht von Behörden auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit sowie die Richtigkeit der Werbeaussagen hin überprüft, bevor sie auf den Markt kommen.
„Der Aufklärungsbedarf ist gewaltig“
„Sinn macht die Einnahme dann, wenn tatsächlich ein Mangel festgestellt wurde und der durch die normale Nahrungsaufnahme nicht beseitigt werden kann“, sagt Angela Clausen von der Verbraucherzentrale NRW. Doch sie warnt: Bei der Selbstmedikation könne es – insbesondere bei Verwendung mehrerer Produkte oder Nichteinhaltung der Verzehrempfehlung – zu Überdosierungen kommen. Diese wiederum könnten gesundheitsschädlich sein. Das sei vielen Verbrauchern jedoch nicht bewusst, so die Expertin. Auch seinen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten möglich.
„Der Aufklärungsbedarf ist gewaltig“, sagt Clausen. Deshalb gibt es seit Januar das Portal „Klartext Nahrungsergänzungsmittel“ der Verbraucherzentralen in Deutschland. Die Mehrzahl der Deutschen glaube eben, dass sie ihrer Gesundheit etwas Gutes tun würden. Doch aktuelle Untersuchungen zeigen: Nötig sind die Nahrungsergänzer in vielen Fällen nicht. „Die Deutschen sind nicht unterversorgt“, sagt Clausen. „Wir nehmen mit der Nahrung in der Regel auf, was der Körper braucht.“
Doch das Gefühl der Deutschen ist ein anders. Laut der Studie sind es vor allem die bis 30-Jährigen, die zu den Pillen greifen. Mehr Frauen als Männer nehmen Nahrungsergänzungsmittel. Und: Je höher der Bildungsgrad, desto stärker werden die Produkte verwendet ein. „Es ist die Sorge um die Gesundheit, vor allem aber um die Leistungsfähigkeit, die die bis 30-Jährigen zur Einnahme bringt“, sagt Clausen.
Eine weitere Gruppe, die verstärkt zu Nahrungsergänzungsmitteln greift: die über 55-Jährigen. „Die Behandlung der ersten Alterszipperlein, aber auch die Angst vor Krankheiten sind Gründe für die Einnahme der Mittel“, sagt Clausen. „Doch Nahrungsergänzungsmittel sind nicht für die Vorbeugung, Heilung oder Behandlung von Krankheiten da.“
Und doch ist es das, was viele Produktverpackungen suggerieren. Beispiel B12: Das Vitamin trägt „zur Verringerung von Müdigkeit und Erschöpfung“ oder „zu einer normalen Funktion des Immunsystem bei“ heißt es zum Beispiel auf Produktverpackungen. Wer sich also nicht normal fühlt, greift zu. Das Problem: Je nach Produkt und Hersteller liegt die B12-Menge bei 50 bis 55 Mikroramm. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gibt Empfehlungen für die Tagesdosierung heraus. Die liegt für B12 nur bei 3 bis 9 Mikrogramm.
Viele Produkte sind zu hoch dosiert
Eines der bekanntesten Präparate bei den B12-Vitaminen ist Vitasprint. Das Premiumprodukt aus dem Hause Pfizer ist nach eigenen Angaben Marktführer – allerdings handelt es sich dabei, im Gegensatz zu anderen B12-Produkten, um ein Arzneimittel, das heißt: ohne Wirknachweis, aber sicherheitsgeprüft. Vitasprint ist noch höher dosiert. Je nach Produkt – als Trinkfläschchen oder Kapsel – liegt die B12-Menge bei 200 bis 500 Mikrogramm.
Pfizer teilt mit, „dass es sich bei Vitasprint um ein Arzneimittel handelt und die Dosierung von 500 Mikrogramm für therapeutische Zwecken eingesetzt wird und keinen ernährungsphysiologischen Wert mehr hat“. Für Verbraucher sei der Unterschied aber nicht erkennbar, weil Vitasprint auch in Drogeriemärkten neben den Nahrungsergänzern angeboten werde, sagt Verbraucherzentrale-Expertin Clausen.
Auch andere Produkte sind deutlich zu hoch dosiert, wenn die Grundlage die Empfehlung des BfR ist. Beispiel Magnesium: Unter der Marke Doppelherz von Queisser Pharma, einem der Marktführer für Nahrungsergänzungsmittel, gibt es Produkte in unterschiedlichen Dosierungen mit 210, 250, 300 oder 400 Milligramm sowie mit Zusätzen. Die maximale empfohlene Tageshöchstdosis für Magnesium des BfR liegt bei 250 Milligramm. Auf Anfrage wollte sich das Unternehmen sich dazu nicht äußern.
Überdosierungen bei Nahrungsergänzungs-Produkten sind kein Einzelfall. Ein Marktcheck der Verbraucherzentrale zeigt: 64 Prozent aller Magnesiumprodukte liegen über der empfohlenen Tagesdosis. Einer der Gründe: Es klinge besser, meint Angela Clausen: „In den Köpfen ist verankert: Viel hilft viel. Auch wenn das nicht stimmt.“
Magnesium Verla ist laut IMS Health das meistverkaufte Nahrungsergänzungsmittel 2016. Das Unternehmen wirbt auf seiner Seite: „Mit nur einer Einnahme die Tagesempfehlung erfüllen.“ Allerdings liegt die mit 300 Milligramm über der Empfehlung des BfR. Andere Magnesium-Produkte aus der gleichen Reihe sind aber deutlich geringer dosiert.
„Die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zur Magnesiumzufuhr über die Nahrung (300 bis 400 Milligramm pro Tag) gilt nur für Gesunde“, teilt das Unternehmen Verla auf Handelsblatt-Anfrage mit. „Für zum Beispiel Kranke oder durch Medikamenteneinnahme belastete Personen können höhere Mengen nötig sein. Was die Ergänzung der normalen Ernährung anbetrifft, schlägt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wie auch das Bundesinstitut für Risikobewertung eine Höchstmenge von 250 Milligramm Magnesium pro Tag vor.
Das heißt aber nicht, dass höher dosierte Nahrungsergänzungsmittel mit gesundheitlichen Risiken verbunden sind. So kommt die European Food Safety Authority (EFSA) zu dem Schluss, dass Magnesiummengen von etwa 360 Milligramm pro Tag bei einem kleinen Prozentsatz der Erwachsenen zu leichtem Durchfall führen können. 360 Milligramm werden dabei als die niedrigste Menge betrachtet, bei der überhaupt ein unerwünschter Effekt (leichter Durchfall) möglich erscheint. „Unter diesem Aspekt sind Nahrungsergänzungsmittel mit 150 bis 300 Milligramm Magnesium eine sinnvolle Option bei erhöhtem Magnesiumbedarf (zum Beispiel Sport, Stress, Medikamenteneinnahme).“