
Sèvres Nein, die Waage im Bad wird kein anderes Gewicht anzeigen, und ein Kilo Äpfel wird weiterhin ein Kilo wiegen: Wissenschaftler entscheiden voraussichtlich an diesem Freitag, wie sie die exakte Masse eines Kilogramms definieren. Im französischen Versailles werden sie eine entsprechende Formel verabschieden.
Die Masse eines Kilogramms wurde bislang von der Großmutter aller Kilos festgelegt: einem Metallzylinder von der Größe eines Golfballs, der in einem Tresor in Frankreich liegt. Seit 1889 gilt das Ur-Kilo – Le Grand K – als das wahre Kilogramm, auf das sich alle anderen Kilos gründen.
Die rostfreie Legierung besteht zu 90 Prozent aus Platin, zu 10 Prozent aus Iridium und kommt nur selten ans Tageslicht. Sie ist die die Grundlage für das weltweit akzeptierte System der Massenberechnung, von der zum Beispiel der internationale Handel abhängt.
Um den Tresor mit dem Ur-Kilo zu öffnen, sind drei an verschiedenen Orten aufbewahrte Schlüssel nötig. Le Grand K und seine sechs offiziellen Kopien, die auch „der Erbe und seine Stellvertreter“ genannt werden, liegen unter Glasglocken im Internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Sèvres westlich von Paris.
Die Institution wurde 1875 von 17 Staaten gegründet und hütet die sieben wichtigsten Einheiten, mit der die Menschen die Welt vermessen: den Meter für die Länge, das Kilogramm für die Masse, die Sekunde für die Zeit, das Ampere für die Stromstärke, das Kelvin für die Temperatur, das Mol für die Stoffmenge und die Candela für die Lichtstärke.
Von ihnen ist das Kilo die letzte Maßeinheit, die noch auf einem physikalischen Gegenstand beruht. Der Meter beispielsweise wurde zwar früher mittels einer einen Meter langen Metallleiste berechnet, wird aber heute definiert als die Strecke, die Licht im Vakuum in 1/299.792.458 Sekunden zurücklegt.
„Das ist ein Grund zum Feiern, denn es ist der letzte Standard aus dem Jahr 1875, der endlich erneuert wird“, sagt BIPM-Direktor Martin Milton. „Alles andere haben wir erneuert, ersetzt und verbessert, und diese Neuerung ist die letzte, die noch auf das ursprüngliche Konzept von 1875 zurückgeht. So lange hat es gehalten.“
Das Ur-Kilo verlässt nur selten den Tresor
Die Kilos im BIPM werden nur sehr selten und dann überaus vorsichtig hervorgeholt, damit andere Kilos, die aus aller Welt nach Sèvres geschickt werden, mit ihnen verglichen werden können. So soll sichergestellt sein, dass sie noch korrekt geeicht sind, abgesehen von der Masse eines oder zweier Staubpartikel.
Die Menschen nutzten das Kilo selbst dann, als sie im 20. Jahrhundert stritten, einander bekämpften oder millionenfach umbrachten. Auch die USA, deren Einwohner in Pfund und Unzen rechnen, gehören offiziell zu den Kilo-Ländern – als einer der 17 Gründungsstaaten des BIPM im Jahr 1875.
Das erste Kilo der USA ist K20 und seit 1889 im Land, daneben werden dort weitere sieben Platin-Iridium-Kilos aufbewahrt. China bekam ein Kilo im Jahr 1983, als Marktreformen den Staat in einen wirtschaftlichen Riesen verwandelten. Es war das erste Kilo, das in hochpräziser Diamantbearbeitung hergestellt wurde.
1894 wurde Japan das Kilo K39 zugewiesen, das 1958 an Südkorea abgetreten wurde. Das Kilo „würdigt die Fähigkeit der Menschen, zusammenzuarbeiten“, sagt Milton. „Es wurde tatsächlich auch als großes Friedenswerk bezeichnet, weil es einer der Punkte ist, an dem sich alle Staaten der Erde mit dem absolut gleichen Ziel treffen.“
Das metallene Ur-Kilo soll von einer Definition ersetzt werden, die auf der Planck-Konstante basiert, die zu einer der am meisten geschätzten Gleichungen der Physik gehört. Damit soll es Ländern künftig erspart bleiben, ihre Kilos immer wieder nach Sèvres zu schicken, um sie mit dem Ur-Kilo abzugleichen.
Statt einen wertvollen Metallklumpen mit einem anderen abzuwiegen, sollen Wissenschaftler künftig in der Lage sein, ein exaktes Kilo zu berechnen. Laut Milton profitieren davon die Informatik, Produktion, Pharmaindustrie, Klimaforschung und andere Wissenschaften, in denen präzise Berechnungen erforderlich sind.
„Das System wird in sich korrekt sein, da es sich auf Naturgesetze stützt“, sagt er. „Wir hängen nicht mehr von der Annahme ab, dass sich ein bestimmtes Objekt niemals verändert.“