Nocebo-Effekt Die Macht des negativen Denkens

Die Erwartung eines Patienten beeinflusst das Ergebnis einer Behandlung fundamental. Das gilt allerdings nicht nur für den bekannten Placebo-Effekt, sondern auch für seinen negativen Zwillingsbruder, den Nocebo-Effekt.

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Die Erwartung eines Patienten beeinflusst das Ergebnis einer Behandlung fundamental - in positiver wie in negativer Hinsicht. Quelle: handelsblatt.com

Wenn Wirbelsäulenchirurg Anders Cohen seine Patienten untersucht, begutachtet er nicht nur ihren lädierten Rücken. Ebenso achtet er darauf, was die gequälten Menschen von einer etwaigen Operation erwarten. Am liebsten, so bekennt der New Yorker Arzt freimütig, würde er nur jene behandeln, „die dich beim Kragen packen und sagen „Ich halte das nicht mehr aus“.

Immer mehr Studien zeigen, was Ärzte wie Cohen schon lange wissen: Die Erwartung eines Patienten beeinflusst das Ergebnis einer Behandlung fundamental. Das gilt allerdings nicht nur für den Placebo-Effekt, bei dem schon der Glaube an eine baldige Besserung Heilkraft entfaltet, sondern auch für dessen bösen Zwilling, den Nocebo-Effekt: Dabei kann eine pessimistische Grundhaltung den Erfolg selbst der besten Therapie blockieren.

Weil positives wie auch negatives Denken so enorm wichtig sind, drängen manche Forscher Ärzte dazu, den Erwartungen ihrer Patienten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. „Wir alle wissen, dass viele Therapien manchen Patienten helfen, aber bei anderen versagen“, sagt Randy Gollub vom Massachusetts General Hospital.

Der Neurowissenschaftler informiert seine Patienten nicht nur über die statistische Wahrscheinlichkeit, mit der ein Verfahren hilft. Zudem klärt er sie darüber auf, ob sie zu jenen Menschen zählen, bei denen er mit einem Nutzen rechnet.

An der Wirkung von Placebos zweifelt niemand mehr. Zuverlässig verbessern „wirkungslose“ Scheinpräparate bei vielen Studienteilnehmern Schmerzen, Schwermut oder andere Probleme. Wie sehr eine düstere Weltsicht eine Heilwirkung verhindern kann, prüften deutsche und britische Forscher in der bislang ausgefeiltesten Untersuchung zu dem Thema.

22 gesunden Versuchspersonen schnallten sie einen Hitzestrahler an die Beine. Den schalteten sie so lange ein, bis die Probanden den Schmerz auf einer Skala von eins bis 100 bei fast 70 einstuften.

Dann schlossen die Forscher eine Infusion an, um die leidenden Teilnehmer mit dem hochwirksamen Opioid Remifentanil von ihrer Pein zu befreien. Das bei Operationen gängige Präparat wirkt sehr rasch, aber der Effekt lässt auch schnell nach, wenn die Wissenschaftler die Substanz durch eine herkömmliche Flüssigkeit ersetzen.

Fügten sie den Teilnehmern nun brennende Schmerzen zu und stellten heimlich das Schmerzmittel an, fühlten sich die Probanden bald besser. Hier spielte ihre Erwartung keine Rolle. Die weiteren Versuche zeigen deutlich, dass - sowohl positives wie auch negatives - Denken über den Effekt einer etablierten Therapie triumphieren kann: Kündigten die Wissenschaftler an, das Schmerzmittel zu verabreichen, sank die Pein noch stärker als vorher - obwohl gar kein Opioid in den Körper floss.

Doch wenn die Forscher mitteilten, das Medikament abzustellen, stieg der Schmerz wieder fast auf das Ausgangsniveau - dabei träufelte die Arznei weiter in die Vene. Die negative Erwartung blockierte die Wirkung des höchst effizienten Schmerzmittels.

Wie die Hirnscans der Teilnehmer zeigen, stimmte die Aktivität in den Schmerzzentren mit der angegebenen Intensität des Brennens überein. Mehr noch: Erwarteten die Probanden Pein, so regten sich auch solche Hirnareale, die Angst und Stimmung steuern, wie die Forscher in der Zeitschrift „Science Translational Medicine“ berichten. Die Erwartung einer Linderung aktivierte dagegen jene Regionen, die an der Wirkung von Placebos beteiligt sind.

Die Resultate der kleinen Studie sind laut Studienleiterin Ulrike Bingel vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf auf viele Krankheiten übertragbar. Etwa auf chronische Leiden, bei denen die Patienten sich im Lauf von Monaten oder gar Jahren daran gewöhnt haben, dass Therapien versagen.

Zwar lässt die Studie viele Fragen offen. Aber Experte Gollub rät seinen Kollegen, engere Beziehungen zu ihren Patienten aufzubauen, um das Vertrauen in den Erfolg der Therapie zu steigern. „Wenn Patienten glauben, dass der Arzt sich aufrichtig um sie kümmert, fördert dies eine starke positive Erwartung an die Genesung“, sagt er.

Allerdings warnt Wirbelsäulenchirurg Cohen junge Kollegen davor, zu übertreiben und ihren Patienten das Blaue vom Himmel zu versprechen - indem sie den Menschen etwa ankündigen, sie würden nach einer Operation schmerzfrei aufwachen. Die Rückenpein mag dann zwar verschwunden sein, aber auch eine frische Wunde kann schmerzen.

„Wenn sich unsere Informationen bewahrheiten, steigt das Vertrauen“, erläutert Cohen. „Man muss mit den Patienten eine Partnerschaft aufbauen.

 

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