Plötzlich vegan „Wir stehen vor dem Ende der Fleischindustrie, wie wir sie kennen“

Hersteller Rügenwalder Mühle machte im Juli 2020 erstmals mehr Umsatz mit veganen und vegetarischen Fleischalternativen als mit klassischem Aufschnitt oder Teewurst. Quelle: imago images

Veggie-Produkte mischen den Fleischmarkt auf – und die größten Fleischhersteller mischen mit. Es lockt ein Milliardenmarkt. Dabei kaufen selbst die Tierschützer von Peta Fleisch-Aktien.

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Ende Mai in Shanghai wirbt die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken in ihrer Handy-App mit einem besonderen Produkttest: Die Kunden können Coupons für Chicken Nuggets kaufen, so lange der Vorrat reicht. Es sind allerdings Nuggets, die nicht aus Hühnerfleisch bestehen - sondern aus pflanzlichen Zutaten. Das Interesse ist gewaltig: Schon nach einer Stunde sind die gut 7000 Portionen veganer Nuggets ausverkauft.

Die Aktion in China ist so erfolgreich, dass Cargill, der Produzent der neuen Nuggets, schon Wochen später eine ganze Reihe von pflanzenbasierten Produkten für den chinesischen Markt angekündigt, Markenname: Plant ever. Es ist eine Ankündigung, die vor wenigen Jahren noch kaum denkbar gewesen werden. Denn Cargill, muss man wissen, ist der drittgrößte Fleischhersteller der Welt. 

Ein bemerkenswerter Wandel zeigt sich in der Fleischindustrie. Noch machen die Lebensmittelkonzerne ihre Umsätze mit tierischen Produkten, 1,4 Billionen Dollar setzen sie jährlich damit um. Allein die führenden drei Konzerne, Cargill, Tyson und JBS, machten im vergangenen Jahr zusammen mehr als 200 Milliarden Dollar Umsatz.

Doch glaubt man Analysten, etwa von der Unternehmensberatung Kearney, dann steht die Fleischindustrie vor einer Zeitenwende. Schon in zehn Jahren sollen 28 Prozent der heutigen Fleischprodukte durch pflanzliche Alternativen und Fleisch aus tierischen Zellen, die in Nährlösung heranwachsen, ersetzt werden. 2040 sollen es schon 60 Prozent sein. „Wir stehen vor nichts weniger als dem Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen“, prophezeit Carsten Gerhardt, Partner bei Kearney.

Schon jetzt boomen gerade in Deutschland Fleischersatz-Produkte aus Soja oder Weizenproteinen: Im Jahr 2019 wurden laut „Fleischatlas“, darin tragen der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und die Heinrich-Böll-Stiftung gemeinsam regelmäßig Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel zusammen, hierzulande rund 266 000 Tonnen davon verkauft - ein Rekordhoch. Das entsprach einem Jahresumsatz von 273 Millionen Euro. Zum Vergleich: Mit Fleisch und Wurst wurden dem Bericht zufolge im selben Zeitraum 40,1 Milliarden Euro umgesetzt.

„Der Markt für Fleischersatzprodukte entwickelt sich so dynamisch wie nie zuvor“, schreiben die Autoren. Längst sei auch die konventionelle Fleischindustrie auf den Trend aufgesprungen. „Der Hersteller Rügenwalder Mühle machte im Juli 2020 erstmals mehr Umsatz mit veganen und vegetarischen Fleischalternativen als mit klassischem Aufschnitt oder Teewurst“, heißt es weiter.

Die großen Hersteller wollen sich das neue Geschäft nicht entgehen lassen – und, wenn der Wandel wirklich so radikal kommen sollte, nicht riskieren, von neuen Anbietern vom Markt gedrängt zu werden. Deshalb beobachten sie den weltweiten Veggie-Boom genau - und mischen bei Innovationen, die Fleisch durch neue Lebensmittel ersetzen sollen, mit.

„Die Lebensmittelbranche hat eines der größten Innovationspotentiale überhaupt“, sagt Florian Schattenmann, Forschungschef bei Cargill. „Es gibt eine unheimliche Dynamik, Zehntausende Start-ups arbeiten an neuen Produkten.“ Wer sein Angebot jetzt verbreite, könne sich ein wachsendes Geschäft aufbauen. „Wer sich nicht weiter entwickelt, kann zum Kodak der Agrarindustrie werden.

Tierschützer kaufen Aktien

Die Industrie reagiert damit auch auf wachsenden Druck: Klimawandel durch tierische Treibhausgase, Brandrodung in Brasilien, Corona-Ausbrüche in Schlachthöfen - das alles verschreckt Kunden und macht Investoren skeptisch. Zuletzt kaufte sogar die Tierschutzorganisation Peta Anteile an verschiedenen Fleischkonzernen wie Tyson, Smithfield oder Maple Leaf, um als Aktionär auf den Ausstieg aus der Tierschlachtung zu drängen.

Cargill-Forschungschef Schattenmann hat sein Team von 2000 Mitarbeitern weltweit auf neue Proteine angesetzt. Es arbeitet nicht nur an vegetarischen Chicken Nuggets aus dem Labor, sondern an einer ganzen Reihe von pflanzenbasierten Produkten. „In den nächsten drei Jahren wird sich auf dem Gebiet alternativer Proteine enorm viel bewegen“, sagt Schattenmann. „Und wir wollen ganz vorne mit dabei sein.“

Dass Start-ups wie Beyond Meat schon seit Jahren mit Fleischalternativen auf dem Markt sind, nimmt der Manager sportlich. Schließlich wisse Cargill so gut wie kaum jemand anderes, wie Fleisch verarbeitet wird - und das Wissen helfe, neue Produkte zu entwickeln. „Wir haben Wissenschaftler, die sich mit Ölen und Fetten auskennen, die verstehen, wie sich Fleischfasern aufbauen und wie die Farben von Lebensmitteln entstehen“, sagt Schattenmann. „Das ist unser großer Vorteil gegenüber Mitbewerbern.”  

Pflanzenproteine, Öle, Fette, Bindestoffe, Mineralien – das alles müsse in der richtigen Weise zusammengebracht werden, damit es die Konsumenten überzeugt. „Wenn Sie einen Burger auf den Grill legen, wird das rote Fleisch grau“, sagt Schattenmann. „Wir müssen fundamental verstehen, was da passiert – und es mit pflanzlichen Inhaltsstoffen imitieren.“

Ziel der Entwickler ist, dabei keinen Cocktail an Zusatzstoffen zu benötigen. „Wir möchten so wenige Zutaten wie möglich verwenden“, sagt Schattenmann. Seine Forscher arbeiten gerade daran, wie sie Erbsenproteinen eine faserige Struktur verleihen können, die Fleisch besser ähnelt – und das ohne Chemie, allein mit natürlichen Mitteln wie Feuchtigkeit oder Druck. „Unsere Vision ist, dass man den Unterschied zwischen Fleischersatzprodukten und dem echten Fleisch eines Tages nicht mehr schmeckt“, sagt Schattenmann.

Kein kompletter Abschied vom Fleisch

Neben den eigenen Entwicklungen investiert Cargill auch in Start-ups, die ganz neue Technologien entwickeln – etwa in die israelische Firma Aleph Farms und die US-Gründung Memphis Meats, die beide an Fleisch arbeiten, das in Zellkulturen heranwächst. 

Die Konkurrenz schläft nicht: Der US-Fleischkonzern Tyson etwa hat in das Start-up New Wave Foods investiert, das pflanzenbasierte Fischprodukte entwickelt, in MycoTechnology, ein junges Unternehmen, das mit Pilzen neue Lebensmittel kreiert, und in Future Meat Technologies, das Fleisch im Labor wachsen lassen will. Der niederländische Fleischanbieter Vion hat im vergangenen Jahr sein eigenes Start-up namens Me-at gegründet, das fleischlose Produkte entwickeln soll. 

Zunehmend sprechen Manager aus der Fleischindustrie, wenn sie etwa auf Podiumsdiskussionen über die Zukunft reden, nicht mehr davon, dass sie Fleischfabrikanten sind – sondern Proteinproduzenten. Die Rohstoffe für die Lebensmittelindustrie der Zukunft könnten immer weniger das Kraftfutter und Heu sein - und immer mehr Erbsen, Lupinen oder Soja.

Auch hier hat sich Cargill schon positioniert: Im September 2019 investierte der Konzern 75 Millionen Dollar in Puris, den größten nordamerikanischen Anbieter von Erbsenproteinen. Das Investment soll es Puris ermöglichen, seine Fertigungskapazität zu verdoppeln. Einer der wichtigsten Kunden von Puris: Der Veggie-Burger-Börsenstar Beyond Meat.

„Wir sehen in alternativen Proteinen riesige Chancen“, sagt Cargill-Manager Schattenmann.

Dass Cargill aber irgendwann gar keine tierischen Produkte mehr verkaufen werde, sei sehr unwahrscheinlich: „Ein gesundes, mageres Stück Fleisch“, sagt Schattenmann, „ist immer Teil unserer Portfolios.” 

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