Satelliten im Ukraine-Krieg „Die russische Armee ist mit veralteten Karten aus den 70ern in die Ukraine eingerückt“

Aufklärung aus dem All: Ein Satellitenbild des Start-ups Planet Labs zeigt schwarzen Rauch nach einem mutmaßlichen Drohnenangriff auf russische Truppen auf der Schlangeninsel im Schwarzen Meer. Quelle: AP

Nicht nur Waffen helfen der Ukraine, sich gegen Russland zu verteidigen – sondern auch eine Flut an Satellitendaten. Keith Masback, Satellitenexperte und langjähriger leitender Analyst für die US-Armee, erklärt, wie die Observation aus dem All Schlachten entscheiden kann.

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WirtschaftsWoche: Herr Masback, wohl nie zuvor in einem Krieg gab es im Internet so viele aktuelle Satellitenbilder zu sehen wie derzeit bei Russlands Angriff auf die Ukraine. Wie wichtig sind Aufklärungssatelliten für die ukrainische Armee?
Keith Masback: Die Ukraine benutzt Satellitendaten unter anderem, um die russischen Truppenbewegungen zu verfolgen oder mögliche Angriffsziele zu finden. Kombiniert mit Aufklärungseinheiten, Drohnenvideos, Datenanalyse und Visualisierungssoftware sprechen wir von „raumbezogener Aufklärung“ – ein unerlässliches Werkzeug für jede moderne Armee. Jeder Kommandeur im Gefecht ist darauf angewiesen, diese Informationen möglichst schnell zu erhalten.

Soweit bekannt ist, hat die Ukraine keine eigenen Spionagesatelliten – und erhält darum Informationen aus den USA
Die USA unterstützt die Ukraine nicht nur mit Material, sondern auch mit Informationen, das hat die US-Regierung offengelegt. Die Ukraine kann auch Satellitenbilder von einer Reihe kommerzieller Quellen erwerben. Zu ihrem eigenen nationalen Interesse wertet die US-amerikanische Nationale Behörde für Geographische Aufklärung rund um die Uhr Satellitenbilder aus. Ihre Geheimdienstinformationen gelangen ins tägliche Briefing des US-Präsidenten, aber auch zu Kommandeuren der USA und mancher Alliierter rund um die Welt. 

Sind Geheimdienstinformationen der USA also ein Schlüssel für die Erfolge der ukrainischen Armee?
Wir sollten nicht unterschätzen, wie enorm gut sich die Ukraine selbst auf den Krieg vorbereitet hat – und mit Spähtruppen, Drohnen, Funkabhörsystemen arbeitet. Unterschätzen sollte man auch nicht, welche wichtige Rolle kommerzielle Erdbeobachtungssatelliten spielen. In den vergangenen Jahren ist die kommerzielle Fernerkundung massiv gewachsen: Hunderte von Satelliten in der Umlaufbahn sammeln Daten über die Erde und Aktivitäten auf der Erde.

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Wie gut sind diese Bilder inzwischen?
Die besten kommerziellen Fernerkundungsplattformen sind in der Lage, Dinge zu erkennen, die etwa 30 Zentimeter voneinander entfernt sind. Wenn jemand also zwei Fußbälle 30 Zentimeter voneinander entfernt auf den Boden legt, können Sie an einem Tag mit gutem Wetter aus dem All erkennen, dass es sich um zwei getrennte Objekte handelt. Wichtig ist aber nicht nur die räumliche Auflösung, sondern auch die zeitliche.

Zur Person

Wie meinen Sie das?
Weil inzwischen so viele kommerzielle Satelliten ständig Fotos machen, können Militäranalysten heute Zugang haben zu täglich mehreren Fotos von jedem möglichen Ort auf der Erde. Und je öfter sie sich einen Ort anschauen, desto besser können sie Muster erkennen – und sehen, wenn sie sich verändern. 

Was bedeutet das konkret? 
Denken Sie etwa an die Bewegungen von Truppen. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine etwa konnten wir sehen, dass sich russische Hilfstruppen an die Grenze bewegten, also etwa medizinische und logistische Einheiten. Das deutete auf eine größere Mobilisierung der Armee hin.

Und als der Krieg begann?
Als die Russen einmarschierten, ging es um das Situationsbewusstsein: Was machen die Russen? Wo tun sie es? Die russische Armee kämpft einigermaßen gemäß alter sowjetischer Doktrin, das macht ihre Bewegungen einigermaßen vorhersehbar. Wenn ukrainische Analysten auf Satellitenbildern bestimmte Ausrüstungsgegenstände sehen, können sie daraus schließen, was die russischen Einheiten als nächstes vorhaben.

Zum Beispiel?
Wenn Sie erkennen, dass das große Hauptquartier sich für den Weiterzug bereit macht, kann das auf eine bevorstehende große Attacke hindeuten. Und wenn Sie eine bestimmte Art von Radaranlagen entdecken, wissen Sie, welches Raketensystem in der Nähe vermutlich eingesetzt wird und können darauf reagieren. Interessant kann es aber auch sein, das Wetter vor Ort zu beobachten – und seine Auswirkungen am Boden.



Wieso das?
Sie können etwa herausfinden, wo es viel geregnet hat, dass der Boden matschig ist und die russischen Truppen auf Straßen angewiesen sind. Dort sind sie verwundbarer und es bieten sich Gelegenheiten für einen Angriff. Danach folgt das so genannte Battle Damage Assessment: Analysten versuchen auf Satellitenbildern zu erkennen, welchen Effekt ein militärischer Schlag hatte. Ist ein weiterer Angriff nötig – oder kann ich das nächste Ziel ansteuern? 

Wie erkennen Experten auf den Fotos aus dem All überhaupt, was sie da sehen?
Analysten verbringen Tag für Tag viel Zeit damit, Satellitenbilder zu studieren, um ihre Ziele zu verstehen. Wie sieht ein russischer T-72-Panzer von oben aus im Unterschied zu einem T-80? Welche Artillerie besitzen die Russen und wie sehen die Geschütze auf Bildern aus dem All aus? Haben sie einen eigenen Antrieb oder werden gezogen? Was verraten Spuren auf Straßen und Pfaden über den Typ des verwendeten Geräts? 


„Satelliten werden genutzt, Karten rund um die Uhr auf dem Laufenden zu halten“


Das klingt nach einer ziemlich ermüdenden Arbeit.
Das kann mitunter sein, aber wie bei allem anderen geht es um viele Stunden des Übens dessen, was wir nachrichtendienstliches Analysehandwerk nennen. Analysten setzen auch verstärkt auf künstliche Intelligenz, die auf maschinellem Lernen basiert. Wenn Sie etwa kontinuierlich eine russische Armeebasis beobachten wollen, dann können Sie künstliche Intelligenz nutzen, um Veränderungen festzustellen: Welches Equipment ist neu dazu gekommen, welches wurde weggefahren? Algorithmen werden auch immer besser darin, etwa Fahrzeugtypen zu unterscheiden. Neue Satelliten können sogar militärische Ziele entdecken, die für das Auge bisher unsichtbar waren.

Wie das?
So genannte multispektrale Sensoren können nicht nur das sichtbare Licht erfassen, sondern etwa auch Infrarotlicht – also Wärmestrahlung. Das britische Start-up Satellite Vu wird bald solche Satelliten starten. Damit können Sie etwa Kommandoposten entlarven, die versuchen, sich unter einem grünen Tarnnetz zu verstecken. Die Wärme der Menschen, Fahrzeuge oder Dieselgeneratoren wird auf den Satellitenbildern mancher kommerzieller Anbieter klar sichtbar. Damit können Sie mitunter auch erkennen, bei welchen Panzern die Motoren laufen und welche still sehen oder welche Flugzeuge auf einem Flugfeld in Betrieb sind und welche nicht.

Satellitenexperte Keith Masback war lange leitender Analyst der US-Armee. Quelle: Privat

Und wenn es bewölkt ist oder Nacht?
Auch dann können Sie Infrarotstrahlung entdecken. Sie können aber auch die Erde mit Radar aus dem All scannen, wie es etwas die Satelliten des finnischen Start-ups Iceye tun. Radarsatelliten tasten die Erde mit elektromagnetischen Wellen ab. Sie erhalten auch bei Bewölkung und bei Nacht scharfe Bilder. Aus dem Echo der Signale können Sie auch ein Höhenprofil erstellen – wo die Radarwellen schneller zurückkommen, ist ein höherer Gegenstand. 

Welchen Nutzen hat das?
Sie können Dinge auf der Erde vermessen – etwa zentimetergenau bestimmen, wie hoch ein Gebäude ist. Oder Sie schauen sich vertikale Objekte rund um Flughäfen an: Wo können Militärflugzeuge starten und landen? In welcher Höhe könnten Sie mit etwas zusammenstoßen? Außerdem können andere Arten von Sensoren auch Funksignale empfangen, die von Einheiten auf der Erde ausgesendet werden.

Quasi eine fliegende Abhörstation im All?
Genau. Das Unternehmen Hawkeye 360 etwa kann mit seinen Satelliten die AIS-Positionssignale von Schiffen empfangen oder russische Störungen der GPS-Ortungssignale in der Ukraine und anderswo erkennen. Man kann aus dem All auch die Radarsignale von Luftabwehrsystemen orten und so erkennen, wo diese Einheiten stehen. Wenn Sie die Reichweite der Raketen kennen, wissen Sie, in welcher Gegend Ihre Kampfflugzeuge besser nicht fliegen sollten.

Viel wurde auch über die Starlink-Kommunikationssatelliten von SpaceX berichtet – das Unternehmen hat der Ukraine tausende Empfangsantennen für sein Satelliteninternet bereit gestellt. Wie wichtig ist das für die Armee?
Sicherlich ist das eine gute Unterstützung. Das ukrainische Militär muss ständig in der Lage sein, zu kommunizieren und operative, logistische und geheimdienstliche Daten kontinuierlich miteinander zu teilen, ohne dass die Kommunikation von russischen Kräften unterbrochen wird.

Wenn das alles heute mit kommerziellen Satelliten möglich ist – was können dann erst die staatlichen Spionagesatelliten?
Man könnte mit ein wenig Logik schließen, dass deren Technologien noch leistungsfähiger sind. Sie werden aber verstehen, dass meine Sicherheitsermächtigung mir nicht erlaubt, darüber im Detail zu reden. Die Fähigkeiten von Spionagesatelliten sind eines der am besten gesichertsten staatlichen Geheimnisse. Wenn Gegner wissen, was Sie alles aus dem All erfassen können, könnten sie versuchen, ihr Verhalten und ihre Signalabdrücke zu verändern.

Immerhin ist bekannt, dass die US-Militärforschungsbehörde DARPA mit dem Rüstungskonzern Northrop Grumman an weltraumbasierten Radarantennen arbeitet, die bewegliche militärische Objekte auf dem Erdboden verfolgen sollen.
Sie sprechen von Radar-Zielerfassung, auch Moving Target Indication genannt. Heute betreibt die US-Luftwaffe spezielle Flugzeuge mit der Bezeichnung Joint Stars, die über dem Schlachtfeld fliegen und mit Hilfe von Radar sowohl Luft- als auch Bodenziele als Punkte auf einer Karte darstellen. Der Kommandeur der U.S. Space Force kündigte für 2021 ein Programm an, mit dem diese Fähigkeit in den Weltraum verlagert werden soll. Dann würden die großen, langsam fliegenden und dadurch verwundbaren Flugzeuge für diese Aufgabe nicht mehr benötigt.

Welches Land hat bei der Satellitenaufklärung heute die Nase vorn?
Einige Länder verfügen über sehr gute Aufklärungssatelliten: die USA mit den elektro-optischen, also mit sichtbarem Licht operierenden Satelliten von Maxar, Deutschland mit seinem TerraSAR-X- und Tandem-X-Radarsystem, Luxemburgs Radiofrequenzsystem Kleos und natürlich China, das in letzter Zeit stark in seine Raumfahrtkapazitäten investiert hat. Die USA sind nach wie vor das Land mit den höchsten privaten und staatlichen Gesamtinvestitionen in die Geointelligenz.

Warum hat die russische Armee dann so viele Fehler in der Ukraine gemacht?
Eine Anekdote, die ich gehört haben: Die russische Armee ist mit veraltetem Kartenmaterial in die Ukraine eingerückt, das teilweise aus den 1970er-Jahren stammt. Die Ukrainer haben auch Straßenschilder entfernt oder ausgetauscht, um die russischen Einheiten zu verwirren. 

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Können Satellitendaten Truppen mehr Orientierung bringen?
Die Daten von Erdbeobachtungssatelliten werden genutzt, Karten rund um die Uhr auf dem Laufenden zu halten – eine Aufgabe, um die sich in den USA und vielen anderen Ländern ganze Teams kümmern darum. Das ist enorm wichtig. Denn die Karten liefern Kommandeuren vor Ort extrem wertvolle Informationen: Welche Straßen sind heute in der Ukraine passierbar? Welche Brücken sind zerstört? Welche temporären Brücken sind neu installiert? Wenn sich eine Armee für aktuelle Karten und Lageanalysen nicht genug Zeit nimmt und nicht genug Geld ausgibt, kann das verheerende Folgen haben – wie die Russen es gerade erleben.

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