WirtschaftsWoche: Herr Masback, wohl nie zuvor in einem Krieg gab es im Internet so viele aktuelle Satellitenbilder zu sehen wie derzeit bei Russlands Angriff auf die Ukraine. Wie wichtig sind Aufklärungssatelliten für die ukrainische Armee?
Keith Masback: Die Ukraine benutzt Satellitendaten unter anderem, um die russischen Truppenbewegungen zu verfolgen oder mögliche Angriffsziele zu finden. Kombiniert mit Aufklärungseinheiten, Drohnenvideos, Datenanalyse und Visualisierungssoftware sprechen wir von „raumbezogener Aufklärung“ – ein unerlässliches Werkzeug für jede moderne Armee. Jeder Kommandeur im Gefecht ist darauf angewiesen, diese Informationen möglichst schnell zu erhalten.
Soweit bekannt ist, hat die Ukraine keine eigenen Spionagesatelliten – und erhält darum Informationen aus den USA.
Die USA unterstützt die Ukraine nicht nur mit Material, sondern auch mit Informationen, das hat die US-Regierung offengelegt. Die Ukraine kann auch Satellitenbilder von einer Reihe kommerzieller Quellen erwerben. Zu ihrem eigenen nationalen Interesse wertet die US-amerikanische Nationale Behörde für Geographische Aufklärung rund um die Uhr Satellitenbilder aus. Ihre Geheimdienstinformationen gelangen ins tägliche Briefing des US-Präsidenten, aber auch zu Kommandeuren der USA und mancher Alliierter rund um die Welt.
Sind Geheimdienstinformationen der USA also ein Schlüssel für die Erfolge der ukrainischen Armee?
Wir sollten nicht unterschätzen, wie enorm gut sich die Ukraine selbst auf den Krieg vorbereitet hat – und mit Spähtruppen, Drohnen, Funkabhörsystemen arbeitet. Unterschätzen sollte man auch nicht, welche wichtige Rolle kommerzielle Erdbeobachtungssatelliten spielen. In den vergangenen Jahren ist die kommerzielle Fernerkundung massiv gewachsen: Hunderte von Satelliten in der Umlaufbahn sammeln Daten über die Erde und Aktivitäten auf der Erde.
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Wie gut sind diese Bilder inzwischen?
Die besten kommerziellen Fernerkundungsplattformen sind in der Lage, Dinge zu erkennen, die etwa 30 Zentimeter voneinander entfernt sind. Wenn jemand also zwei Fußbälle 30 Zentimeter voneinander entfernt auf den Boden legt, können Sie an einem Tag mit gutem Wetter aus dem All erkennen, dass es sich um zwei getrennte Objekte handelt. Wichtig ist aber nicht nur die räumliche Auflösung, sondern auch die zeitliche.
Zur Person
Keith Masback war mehr als 20 Jahre im US-Militär und in der Regierung tätig, unter anderem als leitender Angestellter der National Geospatial-Intelligence Agency. Das ist die US-Behörde, die für die militärische kartografische Analyse und Bildaufklärung zuständig ist. Dort leitete Masback eine Organisation mit 500 Mitarbeitern, die die täglichen Entscheidungen darüber trafen, wo geheime und kommerzielle Satelliten zur Erfassung von Raketenwarn- und Bilddaten eingesetzt werden sollten. Heute ist er Investor und Geschäftsführer von Plum Run, einem Beratungsunternehmen, das Start-ups im Bereich der Geointelligenz unterstützt.
Wie meinen Sie das?
Weil inzwischen so viele kommerzielle Satelliten ständig Fotos machen, können Militäranalysten heute Zugang haben zu täglich mehreren Fotos von jedem möglichen Ort auf der Erde. Und je öfter sie sich einen Ort anschauen, desto besser können sie Muster erkennen – und sehen, wenn sie sich verändern.
Was bedeutet das konkret?
Denken Sie etwa an die Bewegungen von Truppen. Kurz vor dem Angriff auf die Ukraine etwa konnten wir sehen, dass sich russische Hilfstruppen an die Grenze bewegten, also etwa medizinische und logistische Einheiten. Das deutete auf eine größere Mobilisierung der Armee hin.
Und als der Krieg begann?
Als die Russen einmarschierten, ging es um das Situationsbewusstsein: Was machen die Russen? Wo tun sie es? Die russische Armee kämpft einigermaßen gemäß alter sowjetischer Doktrin, das macht ihre Bewegungen einigermaßen vorhersehbar. Wenn ukrainische Analysten auf Satellitenbildern bestimmte Ausrüstungsgegenstände sehen, können sie daraus schließen, was die russischen Einheiten als nächstes vorhaben.
Zum Beispiel?
Wenn Sie erkennen, dass das große Hauptquartier sich für den Weiterzug bereit macht, kann das auf eine bevorstehende große Attacke hindeuten. Und wenn Sie eine bestimmte Art von Radaranlagen entdecken, wissen Sie, welches Raketensystem in der Nähe vermutlich eingesetzt wird und können darauf reagieren. Interessant kann es aber auch sein, das Wetter vor Ort zu beobachten – und seine Auswirkungen am Boden.
Wieso das?
Sie können etwa herausfinden, wo es viel geregnet hat, dass der Boden matschig ist und die russischen Truppen auf Straßen angewiesen sind. Dort sind sie verwundbarer und es bieten sich Gelegenheiten für einen Angriff. Danach folgt das so genannte Battle Damage Assessment: Analysten versuchen auf Satellitenbildern zu erkennen, welchen Effekt ein militärischer Schlag hatte. Ist ein weiterer Angriff nötig – oder kann ich das nächste Ziel ansteuern?
Wie erkennen Experten auf den Fotos aus dem All überhaupt, was sie da sehen?
Analysten verbringen Tag für Tag viel Zeit damit, Satellitenbilder zu studieren, um ihre Ziele zu verstehen. Wie sieht ein russischer T-72-Panzer von oben aus im Unterschied zu einem T-80? Welche Artillerie besitzen die Russen und wie sehen die Geschütze auf Bildern aus dem All aus? Haben sie einen eigenen Antrieb oder werden gezogen? Was verraten Spuren auf Straßen und Pfaden über den Typ des verwendeten Geräts?