Skandal um falsche Ärztin Patienten klagen nach falscher Alzheimer-Diagnose

Sie hatten sich schon mit ihrem Ende abgefunden, dabei waren sie kerngesund. Dutzende Amerikaner sind an eine betrügerische Ärztin geraten. Deren Schwindel hatte zum Teil verheerende Folgen.

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Der Familienvater erhielt von einer falschen Ärztin die Diagnose Alzheimer. Jetzt klagt er auf Schadenersatz in Millionenhöhe - wie viele andere Opfer der vermeintlichen Spezialistin. Quelle: AP

Toledo Shawn Blazsek wusste zwar, dass sein Kopf beim Boxen in der Highschool einiges abbekommen hatte. Trotzdem war die Nachricht für ihn ein Schock: Alzheimer, mit 33 Jahren. Die Ärztin gab ihm noch zehn Jahre, seinem Gedächtnis deutlich weniger.

Blazsek traf daher konkrete Vorbereitungen, vor allem für seine Frau. Gleichzeitig stellte er eine tödliche Dosis Schlafmittel bereit – für den Tag, an dem er die Namen der eigenen Kinder vergessen haben würde.

Dieser Tag sollte glücklicherweise nie kommen. Denn neun Monate später stellte sich heraus, dass alles nur ein Irrtum war. Zunächst erfuhr der Familienvater, dass die Ärztin, die ihm die Diagnose gestellt hatte, gar nicht vom Fach gewesen war. Eine zweite Untersuchung bestätigte dann, dass er kein Alzheimer hatte.

Und Blazsek ist nicht der einzige, dem es so erging. Mehr als 50 Patienten einer Klinik im US-Staat Ohio plagten sich monatelang mit unnötigen Ängsten herum. Einige der Betroffenen entwickelten Depressionen. Ein paar kündigten ihre Jobs, verkauften ihren Besitz oder unternahmen eine „letzte“ besondere Urlaubsreise. Einer nahm sich sogar das Leben.

Jetzt fordern die Opfer der falschen Ärztin Entschädigung. Gerichtsunterlagen zufolge wollen sie jeweils mehr als eine Million Dollar (935.000 Euro). Die erst Anfang 2015 an einer Klinik in der Stadt Toledo gegründete Spezialabteilung, die unter der Leitung der beschuldigten Ärztin gestanden hatte, wurde inzwischen wieder geschlossen.

Kokosöl und Gedächtnisspiele

Im festen Glauben, dass die verbleibende Zeit knapp sei, hatte Blazsek sich bemüht, seinen vier Kindern noch so viel wie möglich mit auf den Weg zu geben. Seinem Sohn brachte er bei, sich um das Auto der Familie zu kümmern. Seine Frau Jennifer weihte er in die Verwaltung seiner Finanzen ein. „Ich habe sie darauf vorbereitet, als alleinerziehende Mutter zurecht zu kommen“, sagt er.

Fast alle der Betroffenen kamen zunächst wegen anderer Schädigungen am Gehirn zu Dr. Sherry-Ann Jenkins. Einige beschreiben die Ärztin als einfühlsame, umgängliche Person, die Therapie-Sitzungen oft mit einer Umarmung beendet habe. Auf ihre Anregung hin lobten einige Patienten in Artikeln ihren ganzheitlichen Ansatz, zu dem sowohl Gedächtnistrainingsspiele als auch eine tägliche Dosis Kokosöl gehört hätten.

Gleichzeitig betonen sie aber, wie sehr sich Jenkins gegen die Verabreichung von Medikamenten und das Einholen einer zweiten Meinung gewehrt haben soll. Sie hatte zwar ein gesundheitswissenschaftliches Studium abgeschlossen, aber keine Zulassung als Ärztin.


Selbstmord nach der Diagnose

Nach Angaben des Anwalts David Zoll, der die falsch diagnostizierten Patienten vertritt, ist noch unklar, wie viele Personen überhaupt betroffen sind. Allein im Januar hätten sich 30 Patienten der Sammelklage angeschlossen. Die Spezialabteilung von Jenkins an der Toledo Clinic sei innerhalb eines Jahres schnell gewachsen. „Oft hat sie Patienten aufgefordert, die ganze Familie vorbeizuschicken“, sagt Zoll. „Und oft hat sie dann der ganzen Familie die Diagnose gestellt.“

Kay Taynor wurde gleich bei ihrem zweiten Besuch mit der vermeintlichen Diagnose konfrontiert. Sie empfahl daraufhin mehreren Freunden und Angehörigen, sich ebenfalls von Jenkins untersuchen zu lassen. Sie alle hätten mitgeteilt bekommen, an Alzheimer erkrankt zu sein, sagt Taynor – auch ihr 48-jähriger Mann Gary.

Für Gary Taynor sollte die falsche Nachricht fatale Folgen haben. „Er hatte ein Lächeln, das den ganzen Raum aufhellen konnte. Das habe ich dann aber nicht mehr wieder zu sehen bekommen“, sagt Kay Taynor. Ihr Mann sei depressiv geworden. Seine letzten Wochen habe er mit den Händen im Schoss auf einem Stuhl gesessen.

Schließlich habe er sich in der Garage mit einem Schuss in den Kopf das Leben genommen. Bei der Autopsie seien keinerlei Hinweise darauf gefunden, dass er tatsächlich Alzheimer gehabt hätte, sagt die Witwe.

Unter keinen Umständen Alzheimer

Auch Don Tanner war nach eigenen Angaben kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Er war im Februar 2015 nach einem schweren Schädeltrauma in die Klinik in Toledo gekommen und hatte dort ebenfalls die Alzheimer-Diagnose erhalten. Die Krankheit kannte er gut. Denn er hatte lange seinen demenzkranken Vater gepflegt – und erlebt, wie dieser geistig immer mehr abgebaut hatte.

„Für mich stand fest, dass ich meiner eigenen Familie so etwas nicht zumuten würde“, sagt er. Seiner Frau habe er daher ganz offen gesagt, dass er sich von einer Brücke stürzen wolle. Später habe er mit dem Gedanken gespielt, mit seiner Pistole im Gestrüpp hinter dem Haus zu verschwinden.

Seine Frau Monica mochte ihren Mann deswegen nicht mehr allein lassen. Wenn sie zur Arbeit musste, sorgte sie dafür, dass immer jemand anders bei ihm war, entweder eine der Töchter oder Freunde. Erst im vergangenen Sommer – nach der Schließung der Abteilung von Jenkins an der Toledo Clinic – stellte ein anderer Arzt klar, dass Tanner unter keinen Umständen Alzheimer habe.

„Gott muss an meiner Seite gewesen sein, da ich am Ende doch nicht mit meiner Pistole nach draußen gegangen bin“, sagt der ehemalige Alzheimer-Patient, der eigentlich nie einer war. „Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht. Aber irgendetwas hat mir gesagt, dass es noch nicht so weit ist.“

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