Angesichts der jüngsten Kampfhandlungen rund um das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja wächst auch bei vielen Deutschen die Sorge vor lebensgefährlicher Strahlung. Doch wie groß ist dieses Risiko tatsächlich? Wie schnell würde ein Anstieg der radioaktiven Gefahr überhaupt entdeckt? Und wie können sich Bürgerinnen und Bürger darüber am verlässlichsten informieren?
Einen jederzeit verfügbaren Überblick über die im Bundesgebiet gemessenen Werte der jeweiligen Strahlenbelastung liefert ein Messnetz des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). An rund 1700 Standorten im Bundesgebiet und so dicht wie in keinem anderen EU-Land betreibt die Behörde Sensoren, um die sogenannte Ortsdosisleistung zu messen. Auf einer Karte des Bundesgebietes können Interessierte das Strahlungsniveau aller Messstationen nahezu in Echtzeit im Netz abfragen.
Angezeigt wird die jeweils aufsummierte Dosisleistung in Mikrosievert pro Stunde (µSv/h). Aktuell melden alle deutschen Messstationen Werte auf dem Normalniveau von maximal 0,148 µSv/h. Damit sind sie mehrere Zehnerpotenzen weit entfernt vom Schwellenwert von einem Millisievert, bei dem erste Schutzmaßnahmen wie etwa die Kontrolle von Lebensmitteln greifen. Und sie liegen noch viel weiter weg von Maßnahmen des Katastrophenschutzes ab Dosen von zehn Millisievert.
Sollten die Messwerte, etwa nach einem Angriff auf ukrainische Atomkraftwerke, in Deutschland sprunghaft steigen, würden die Sonden hierzulande binnen einer Minute eine Warnmeldung absetzen. Zuvor schon würden aber die Sensoren in Ländern, die der Ukraine näher sind, Alarm schlagen. „Wir stehen in ständigem internationalen Austausch und können die Messdaten auch von hier aus einsehen“, sagt Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz im BfS. Auch die Sensoren rund um die ukrainische Anlage von Saporischschja seien selbst in der Nacht der Kämpfe dort noch abrufbar gewesen „und ohne Auffälligkeiten“.
Derzeit heißt es, dass die Reaktoren der Anlage mindestens zum Teil kontrolliert herunter gefahren werden. Doch selbst wenn Radioaktivität freigesetzt würde, gilt es als sehr unwahrscheinlich, dass die Strahlung das Bundesgebiet erreicht: Frühere Messungen über einen Zeitraum von einem Jahr ergaben, dass die in West- und Mitteleuropa dominante sogenannte Westwindlage möglicherweise austretende Schadstoffe in gut vier Fünfteln der Zeit Richtung Osten und damit nach Russland wehen würde. „Auch das spricht stark dafür, dass die Russen schon aus Selbstschutz keinen Angriff auf die Atommeiler riskieren würden“, sagt ein deutscher Katastrophenschützer.
7 Fragen zum Weiterbetrieb der Kernkraftwerke
Derzeit sind noch drei Atomkraftwerke am Netz: Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Nach geltendem Recht müssen die drei Meiler spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden. Zusammen erzeugten sie nach Angaben des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in diesem Jahr rund 6,4 Prozent des Stroms in Deutschland. Erdgas trug im gleichen Zeitraum 10,1 Prozent zum Strommix bei, erneuerbare Energien hatten mit 51,6 Prozent den größten Anteil. Der in diesem Jahr durch Kernkraft erzeugte Strom könnte bei durchschnittlichem Verbrauch fast 4,5 Millionen Vier-Personen-Haushalte ein Jahr lang versorgen.
Stand: 26. Juli 2022
Erdgas, das knapp zu werden droht, wird tatsächlich vor allem zum Heizen eingesetzt. Es trägt aber auch rund 10 Prozent zur Stromproduktion in Deutschland bei. Wenn man länger auf Atomenergie setzen würde, könnte man also mehr Gas zum Heizen nutzen. Kerntechniker Thomas Walter Tromm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) geht davon aus, dass der seit dem Jahreswechsel erzeugte Atomstrom genug Erdgas ersetzen kann, um pro Jahr etwa drei Millionen Einfamilienhäuser zu heizen. Umstritten ist allerdings, wie viel Strom die Atomkraftwerke mit ihren älteren Brennstäben überhaupt noch liefern könnten.
Rein technisch ist das aus Expertensicht nur möglich, wenn man bis zum kommenden Sommer neue Brennelemente bekommt. Bis dahin könnte ein sogenannter Streckbetrieb gefahren werden. Dann würden die AKW für einige Monate mit gedrosselter Leistung betrieben, so dass die Brennstäbe länger halten. Mehr Strom bekommt man dadurch allerdings nicht, die Produktion wird nur über eine längere Zeit gestreckt. Die Ministerien für Wirtschaft und für Umwelt gehen davon aus, dass neue Brennelemente frühestens in einem Jahr zur Verfügung stünden. Erst ab Herbst 2023 könne zusätzlicher Strom produziert werden, hieß es bereits im März in einem Prüfbericht der Ministerien. Außerdem sei fraglich, ob ausreichend Ersatzteile für den Betrieb und die Sicherheitssysteme vorhanden seien. Um eine Verlängerung rechtlich zu ermöglichen, müsste der Bundestag das Atomgesetz ändern. Denn Ende des Jahres erlöschen alle Betriebsgenehmigungen für Kernkraftwerke in Deutschland. Nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann bei einer Laufzeitverlängerung eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sein, auch das Risiko müsste neu abgewogen werden.
Die Sicherheit von Kernkraftwerken muss in Deutschland alle zehn Jahre gründlich überprüft werden. Den letzten Termin 2019 hat man allerdings ausfallen lassen, weil die Meiler ja ohnehin 2022 abgeschaltet werden sollten. „Bei einem Weiterbetrieb nach dem 1.1.2023 wäre also die letzte Sicherheitsüberprüfung 13 Jahre alt, eine neue wäre zwingend geboten“, schreiben die Ministerien. So eine Prüfung könne Jahre dauern. Trotzdem seien die drei Anlagen sicherheitstechnisch auf einem hohen Niveau. Auch der Tüv Süd hat das Kraftwerk Isar 2 geprüft und keine Bedenken geäußert.
Die Kraftwerksbetreiber haben sich auch personell auf das Aus Ende 2022 eingerichtet. Sollen die Meiler länger laufen, bräuchten sie zusätzliche, gut ausgebildete Mitarbeiter. Die Ministerien gehen davon aus, dass man diese nur mit finanziellen Anreizen bekäme. Andere Experten meinen dagegen, mit dem Personal, das für den Rückbau vorgesehen war, könne man die Anlagen wohl auch weiter betreiben. Die Betreiber haben noch ein anderes Problem: Sie haben für den Atomausstieg Schadenersatz bekommen. Es ist ungeklärt, ob sie den in vollem Umfang behalten dürften, wenn die Meiler noch monatelang weiterlaufen.
Statt Atomkraftwerke länger zu betreiben könnte man auch wieder stärker auf Kohle setzen. Atomkraft-Befürworter argumentieren deshalb unter anderem auch mit dem Klimaschutz: AKW sind über den gesamten Lebenszyklus betrachtet für deutlich weniger Treibhausgas-Ausstoß verantwortlich als beispielsweise Gas- oder Kohlekraftwerke. Das lässt allerdings außer acht, dass es noch immer keine Lösung gibt, den hoch radioaktiven und gefährlichen Atommüll in Deutschland über Hunderte oder Tausende Jahre sicher zu lagern.
Im Süden Deutschlands gibt es kaum Windparks - und ihr Bau kommt nur schleppend voran. Zugleich fehlen Hochspannungsleitungen, die Strom effizient aus dem Norden transportieren könnten. In Bayern gibt es zugleich auch nur wenige Kohlekraftwerke, die die Stromproduktion übernehmen könnten. Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) zufolge deckt allein das Atomkraftwerk Isar 2 schon 15 Prozent des bayerischen Strombedarfs. Das Risiko von winterlichen Versorgungsengpässen sei in Bayern daher größer als in anderen Bundesländern, argumentiert der dortige Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. Im Extremfall müsse man über einen Weiterbetrieb einzelner AKW nachdenken – wenn Stromversorgung und Netzstabilität in Gefahr seien, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“. Aiwanger würde auch bereits abgeschaltete Meiler gern wieder hochfahren. Laut Wirtschaftsministerium müssten diese dann aber das komplette Genehmigungsverfahren mit zahlreichen Prüfungen durchlaufen und teils auch neu ausgestattet werden. „Ein Wiederanfahren der drei zum 31.12.2021 stillgelegten Kernkraftwerke kommt schon aufgrund der genehmigungsrechtlichen Situation (erloschene Betriebserlaubnis), die auch gesetzlich nicht rechtssicher geändert werden kann, nicht in Betracht“, heißt es im Prüfbericht.
In dem Fall, dass der Wind ausnahmsweise ausdauernd von Osten nach Westen wehen würde, rechnen Fachleute hierzulande nur mit geringen zusätzlichen Strahlendosen. Über die rund 1400 Kilometer große Distanz würde sich die Belastung erheblich verringern, heißt es beim BfS.
Das gelte grundsätzlich auch für andere, weiter westlich gelegene Atomkraftwerke in der Ukraine. Und selbst unter für Deutschland ungünstigen Wetterbedingungen, so schätzen Katastrophenschützer, würde es zwei bis drei Tage dauern, bis hierzulande ein Strahlungsanstieg messbar würde.
Jetzt bereits Jodtabletten zu kaufen, die im Fall starker radioaktiver Strahlung vor der Einlagerung radioaktiven Jods im Körper schützen können - davon rät Gering ab: „Wenn wir sie wirklich brauchten, sind genug davon vorrätig.“ Sie ohne konkreten Anlass präventiv zu schlucken, könne „erhebliche gesundheitliche Nebenwirkungen haben, weshalb solche Tabletten nur auf ausdrückliche Anweisung der Behörden eingenommen werden sollten“, mahnt der BfS-Experte.
Transparenzhinweis: Dieser Artikel wurde erstmals im März 2022 veröffentlicht – wir haben ihn aktualisiert.
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