Tauchsieder Ich lebe, also bin ich?

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Das Wissen um unsere Sterblichkeit

Es mag sein, dass man den Tod nicht zwingend braucht, um zum Leben motiviert zu sein. Man kann schwächere Enden finden, die lebenspraktisch zu bewältigen sind: Man kann Projekte aufgeben und Pläne begraben, von einem Partner verlassen werden und Abschied von der Jugend nehmen: „Enden müssen sich nicht aufs hohe Alter oder den bevorstehenden Tod beziehen“, schreibt Kreuels: „Sie müssen lediglich Zeithorizonte einschränken.“ Was sie dabei unterschlägt: Ihren Enden wohnt der Zauber ihrer Bewältigung inne - wenn nicht gar des Neuanfangs. Ihre Enden haben nichts Endgültiges. Das Ende des Todes hingegen ist vollständig finit.

Sehenswerte Orte, die bald verschwinden könnten
Galapagos-Inseln Quelle: AP
Malediven Quelle: dpa
Venedig im Hochwasser Quelle: dpa/dpaweb
Great Barrier Reef Quelle: AP
Totes Meer Quelle: dpa
Alpen Quelle: dpa
Madagaskar Quelle: dpa

Offenbar ist nur das Bewusstsein vom Tod im wahrsten Sinn des Wortes existenziell genug, um Kräfte der Kompensation freizusetzen, die kulturelle Superinnovationen garantieren: „Das Wissen um unsere Sterblichkeit ist ein Kulturgenerator ersten Ranges.“ (Jan Assmann). Es ist höchst fraglich, ob Religion, Spiritualität, Kulturvölker in einer Welt der Unsterblichen überhaupt hätten entstehen können - und es ist höchst unbefriedigend, dass Kreuels sich sträubt, das offensichtliche Wechselverhältnis zwischen Todesbedrohung und Transzendenzwunsch einer näheren Untersuchung zu unterziehen.

Um wie viele Kunstwerke, Musikstücke, Kirchen, Gedankengebäude und Weltwunder wäre die Welt ärmer, wenn es das Bewusstsein von der Vergänglichkeit, vom großen Gleichmacher Tod, von der Endlichkeit allen Seins, vom ewigen Werden und Vergehen nicht gegeben hätte! Mehr noch: Es spricht manches dafür, dass die dramatische Kürze des Lebens in den vergangenen 2700 Jahren (seit Homers) überhaupt erst den Vorrat an Möglichkeiten zur Zeitverbringung hervorgebracht hat, von dem zu zehren Kreuels den Unsterblichen von morgen empfiehlt.

Vor allem aber stellt Kreuels nicht die Frage aller Fragen: Wenn man Unsterblichkeit aus manchen Gründen nicht ablehnen muss - schön und gut. Aber warum sollte man sie sich wünschen? Ist nicht der moderne Mensch zugleich Autor und Zeuge einer paradoxen Entwicklung, die sich einerseits durch verlängerte Lebensspannen auszeichnet - und andererseits durch eine dramatische Aufwertung der Gegenwärtigkeit, des Hier-und-Jetzt-Geschehens?

Wenn sich aber das lange Leben künftig vor allem dadurch auszeichnet, dass das Augenblickliche in Echtzeit gleichsam ewig wieder und wieder bekräftigt wird - wäre dieses Leben mit den Kategorien des Planes, der Aufgaben, der Interessen und des Fortschritts, als humanes und wünschenswertes, überhaupt noch zu fassen?

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