Tauchsieder Ich lebe, also bin ich?

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Ein unsterbliches Leben

Kreuels unterscheidet zwischen „notwendiger“ und „singulärer“ Unsterblichkeit einerseits sowie „kontingenter“ und „kollektiver“ Unsterblichkeit andererseits, um deutlich zu machen, dass sie nicht alle Formen von Unsterblichkeit für wünschbar hält. Notwendig unsterblich zum Beispiel wäre ein Mensch, dessen Leben dem der homerischen Götter nachgebildet wäre: Er ist keinem Risiko des Todes ausgesetzt - und kann sein Leben auch nicht beenden. Kein Unfall, keine Krankheit kann ihn ereilen - und kein Leid groß genug sein, dass er nicht zu ertragen hätte. Einer solchen Unsterblichkeit kann Kreuels nichts abgewinnen: Das Ende seines Lebens muss dem Menschen erreichbar bleiben.

Auch einen Menschen, der unsterblich unter Sterblichen weilte (wie Elina Makropulos in Janáceks Oper), kann Kreuels sich nicht als glücklichen Menschen vorstellen; er müsste zum Beispiel wieder und wieder seine Kinder, Enkel, Urenkel, Freunde und Bekannten sterben sehen. Drittens schließlich scheint Unsterblichkeit nur dann attraktiv zu sein, wenn sie sehr weitgehend das Versprechen einschlösse, die Seneszenz auszuschalten: Es macht einen Unterschied, auf dem Gesundheitslevel eines 40-jährigen oder auf dem eines 80-Jährigen unsterblich zu sein. Oder anders gesagt: Ein (unendlich) langes Leben ist nur dann wünschbar, wenn es mindestens noch von „rüstigen Rentnern“ im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte ergriffen werden kann.

Stufenmodell der Technologie

Folgt man Kreuels, spricht gegen eine solche Gesellschaft der Unsterblichen nichts. Der Tod wäre nicht vollständig aus ihr verbannt und seine Anwesenheit in manch’ paradoxer Hinsicht sogar „lebendiger“ - etwa, weil mit der Lebensdauer des Menschen auch die Gefahr wächst, dass der Tod ihm in Form eines Unfalls widerfährt. Vor allem aber ist die Autorin davon überzeugt, dass sich das aktuale, von der Dramatik seiner Kürze geprägte Leben durch Unsterblichkeit nicht zu seinem Nachteil verändern würde:

  1. Ein unsterbliches Leben könne nicht mehr als Erzählung begriffen werden, weil kein Tod es dramatisch abschließt? Kreuels hält dem Argument zu Recht entgegen, dass die Endlichkeit des Lebens schon deshalb nicht mit der Endlichkeit eines Romans verglichen werden könne, weil der Tod aus der Perspektive der betroffenen Person nie schon eingetreten sein kann. Vor allem aber: Was spricht dagegen, sein Leben nicht zu Ende zu erzählen, es als offenes Buch zu begreifen, als unendlichen Fortsetzungsroman?
  2. 2.Ein unsterbliches Leben kann nicht anders als langweilig sein, weil unsere Ziele, Pläne und Wünsche irgendwann aufgebraucht sind, weil sich das unsterbliche Leben daher wie eine einzige Wiederholung seiner selbst anfühlen muss? Kreuels widerspricht: Generelle Interessen (etwa an einem Gemälde oder Musikstück) sind langlebig. Kategoriale Wünsche (etwa die Erfindung eines Medikaments gegen Krebs) sind überzeitlich. Vorlieben (etwa für Bücher, Themen, Fächer) ändern sich.

Andere Einwände gegen die Wünschbarkeit der Unsterblichkeit kann Kreuels nicht entkräften. Sie weiß, dass sich mit einer Verschiebung der Zeithorizonte die gesamte Sozialstruktur der Gesellschaft verändern würde, weil sich zum Beispiel „die Grenzen zwischen den Generationen auflösen“ würden: Der elementare Zusammenhang von „Sein und Zeit“ (Heidegger) lässt sich eben nicht zurückweisen - weder in einer Welt der Sterblichen, noch in einer Welt der Langlebigen oder Unsterblichen. Deshalb bleibt der Tod (als Unausweichlichkeit oder als Beinahe-Unmöglichkeit) konstitutiv für den Wert, dem wir dem Leben beimessen.

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