
Geht es nach John Maynard Keynes, dem großen Melancholiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, ist es in exakt 13 Jahren soweit: Der Kapitalismus hat uns in paradiesische Wohlbefindlichkeitsweiten expediert, wir können den ratternden Fortschrittsmotor abstellen, uns unter den Baum der Prosperität legen und die Früchte unseres Reichtums genießen. Der britische Ökonom meinte 1928, „dass das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst“ sein werde. Eine Epoche der Fülle werde anbrechen, so Keynes, mit einem Drei-Stunden-Tag und einem Lebensstandard, der „vier- bis achtmal so hoch sein wird wie heute“ - Zeit und Wohlstand satt, um sich endlich den „wirklichen Dingen des Lebens“ zu widmen.
Joseph Schumpeter, der große Tragiker unter den Wirtschaftswissenschaftlern, hielt die Thesen des Kollegen für kompletten Unsinn. Für ihn war Kapitalismus ein dynamischer, unabschliessbarer Prozess, der uns nicht in einen stationären Idealzustand, sondern in eine Art dauernde Zukunft katapultiert. Schumpeters Kapitalismus verheißt uns niemals Ankunft, schon gar nicht in Arkadien, sondern beständige Unruhe. Die moderne Wirtschaftsform zwinge uns zum Aufenthalt in einer Welt, die von Innovationen laufend umgepflügt wird, in der das Neue ständig wird und wächst und wuchert.
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Was aber, wenn der kapitalistischen Maschine die Antriebsstoffe ausgehen? Wenn sich das Wachstum von seiner Substanz nährt, bis ihm zuletzt die Grundlagen fehlen? Hat sich der Kapitalismus als expandierendes System nicht längst überlebt, weil sein konstitutive Grenzenlosigkeit nicht mehr zusammenpasst mit der Endlichkeit globaler Ressourcen? Und zeigen nicht die Geldkrisen der Gegenwart beispielhaft, dass Wachstum in Industriestaaten heute buchstäblich von gestern ist, weil dieses Wachstum die Quellen unserer Zukunft erschöpft? Deutschland zum Beispiel, das ökonomische Musterland Europas, ist in den vergangenen zwölf Jahren um etwas mehr als ein Prozent jährlich gewachsen, gewiss – aber es hat sich dafür rund 350 Milliarden Euro aus der Zukunft geliehen (Neuverschuldung). Bei einem solchen "Wachstum" handelt es sich nicht wirklich um Wachstum, sondern um die kreditfinanzierte Aufrechterhaltung einer Wachstumsillusion. Um ein "Wachstum", das keine Spielräume mehr eröffnet. Sondern unsere Perspektiven schrumpft.
Sogar unter notorisch innovationsfeindlichen Ökonomen hat sich daher herumgesprochen, dass Wachstum nicht alles ist - und dass ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in saturierten Volkswirtschaften nicht zu verwechseln ist mit einem Zuwachs an Glück und Zufriedenheit. Entsprechend haben Forscher mittlerweile eine Fülle von Indikatoren entwickelt, die eine präzisere Evaluierung unseres Wohlstands versprechen. Ihr größtes Problem ist, dass sie statt Wachstum "Fortschritt" und "Nachhaltigkeit" messen wollen – dass aber "Fortschritt" und "Nachhaltigkeit" politisch leicht ausbeutbare Universalvokabeln sind. In die meisten Indizes jedenfalls fließen nicht nur ökologische und finanzielle Nachhaltigkeitsfaktoren ein, sondern auch soziale (Einkommensverteilung), gesellschaftliche (soziale Durchlässigkeit) und demoskopische (Befindlichkeitsumfragen) – ganz so, wie es den Präferenzen der Wissenschaftler (und ihrer Auftraggeber) entspricht. Der Sache dienlich ist das nicht.
Stufen der industriellen Entwicklung
Die erste industrielle Revolution datiert man auf das Ende des 18. Jahrhunderts. Gekennzeichnet war sie durch die Einführung mechanischer Produktionsanlagen, die durch Wasser- und Dampfkraft angetrieben wurden. In dieser Zeit wurde auch der erste mechanische Webstuhl entwickelt.
Quelle: Deutsche Bank Research Industrie 4.0 - Upgrade des Industriestandorts Deutschland steht bevor, Stand: Februar 2014
Die Erfindung erster Fließbänder in Schlachthöfen in den USA ist Symptom der zweiten industriellen Revolution. Die Verfügbarkeit elektrischer Energie für Produktionszwecke bedingte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion.
In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts automatisierte sich die Produktion weiter. Von diesem Zeitraum an wurde nicht mehr nur Arbeitsteilung betrieben, sondern ganze Arbeitsschritte wurden von Maschinen übernommen. Die Grundlage für diese Entwicklung war der Einsatz von Elektronik und IT.
Die Industrie 4.0 soll die vierte industrielle Revolution werden. In der "intelligenten Fabrik" sollen Menschen, Maschinen und Ressourcen miteinander kommunizieren. Das jeweilige Produkt soll, gefüttert mit Informationen über sich selbst, seinen eigenen Fertigungsprozess optimieren können.
Freilich, an der Dringlichkeit, "Wachstum", "Wohlstand" und "Fortschritt" in Europa künftig anders zu vermessen, ändern solche Defintionsschwächen nichts. Hat sich nicht der Glaube an die progressiven Ideen der europäischen Aufklärer, an eine lineare Entwicklung des Fortschritts, an das sittliche Wachstum der Menschheit nicht längst gründlich verbraucht? Wem steht heute noch der Optimismus zur Verfügung, auf eine "lebhafte Gärung der Geister" und einen "allgemeinen Aufschwung der Ideen" (d'Alembert, 1758) zu hoffen, auf "die Überlegenheit einer allumfassenden Moral" der "gebildeten Menschen" (Diderot, 1765) und die "Vervollkommnung des Menschengeschlechts" (Condorcet, 1794)? Fortschritt, übersetzt als kapitalistisches Gesetz des "Immer-Mehr", wird heute von vielen Europäern nurmehr als bloßes Fortschreiten empfunden, als stehendes Marschieren, als systemischer Zwang zum unendlichen Hamsterrad-Lauf. Entsprechend viel ist neuerdings von "Entschleunigung" und "qualitativem Wachstum" die Rede. Helfen solche Begriffe weiter?