Vorabdruck "Die Pharma-Lüge" Wie die Pharma-Branche Patienten schadet

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Nirgends veröffentlicht

Schon die Erstellung einer Liste aller zu einem Thema durchgeführten Studien ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir nicht nur eine verfälschte Darstellung erhalten wollen. Im Fall von Tamiflu aber ist dies nahezu unmöglich. Roche Shanghai informierte die Cochrane-Gruppe zum Beispiel über eine groß angelegte Studie (ML 16369), von deren Existenz Roche Basel nichts zu wissen schien.

Doch auch wenn man einmal diese Studien außer Acht lässt, haben die Forscher eigenartige Diskrepanzen feststellen können: Die größte Phase-III-Studie etwa – eine der für die Marktzulassung notwendigen Studien – ist nirgends veröffentlicht und wird nur selten in den Behördendokumenten erwähnt.

Ein eigenartiges Spiel

Es gab weitere Unstimmigkeiten. Warum wurde beispielsweise eine Studie zu Tamiflu erst 2010 publiziert, zehn Jahre nach ihrem Abschluss? Warum wurden zu manchen Studien völlig unterschiedliche Autoren genannt, je nachdem, wo sie besprochen wurden?

Die Jagd ging weiter. Im Dezember 2009 hatte Roche versprochen, dass die vollständigen Studien in den folgenden Tagen auf einer passwortgeschützten Site für Ärzte und Wissenschaftler, die an seriösen Untersuchungen arbeiten, zur Verfügung gestellt werden. Doch das geschah nicht.

Dann begann ein eigenartiges Spiel. Im Juni 2010 sagte Roche sinngemäß: Oh, das tut uns leid, wir dachten, Sie hätten alles, was Sie brauchen.

Im Juli sorgten sie sich um die Vertraulichkeit der Patientendaten. Das war komisch: Bei den meisten wichtigen Teilen solcher Arbeiten ist die Vertraulichkeit kein Thema. Im August 2010 wurden noch eigenartigere Forderungen gestellt, die die Vorstellung erkennen ließen, dass Unternehmen berechtigt seien, den Zugang zu Informationen zu kontrollieren, die Ärzte und Patienten weltweit dringend für kompetente Entscheidungen benötigen.

Erst bestand das Unternehmen darauf, den Analyseplan der Cochrane-Wissenschaftler zu sehen. Gut, sagten die, und stellten den Prüfplan online. Es gab wenig Überraschendes darin, denn alle Übersichtsarbeiten von Cochrane folgen ohnehin größtenteils demselben Muster.

Persönliche Angriffe auf Ärzte

Roche hielt die eigenen Studienberichte weiter zurück. Inzwischen weigerte sich der Konzern schon seit einem Jahr, die Studienberichte zu veröffentlichen.

Plötzlich erhob das Unternehmen persönliche Anschuldigungen und behauptete, Wissenschaftler von Cochrane hätten unwahre Behauptungen über das Medikament und das Unternehmen gemacht. Wer das war und was er oder sie gesagt hatte, sagte Roche nicht.

Dann wurde es noch sonderbarer. Im Januar 2011 teilte Roche mit, die Cochrane-Wissenschaftler hätten alle Daten erhalten, die sie brauchten. Das stimmte nicht. Im Februar sagte Roche, alle verlangten Studien seien veröffentlicht. Das bezog sich auf die – wie wir inzwischen wissen – irreführenden wissenschaftlichen Arbeiten über Tamiflu. Dann erklärte das Unternehmen, es würde keine weiteren Daten liefern: „Sie haben alle Daten, die Sie für eine Übersichtsarbeit brauchen.“

Doch das stimmte nicht: Roche hielt immer noch das Material zurück, dessen Übergabe „innerhalb weniger Tage“ im Dezember 2009 öffentlich zugesichert worden war. Gleichzeitig führte das Unternehmen an, es sei Aufgabe der Behörden, nicht der Wissenschaftler, diese Entscheidungen über Nutzen und Risiken zu treffen. Diese Behauptung ist aus zwei Gründen nicht haltbar.

Erstens wissen wir – wie bei vielen anderen Medikamenten – nicht, ob den Behörden alle Daten vorlagen. Im Januar 2012 behauptete Roche, die vollständigen Daten der klinischen Studien seien im Rahmen der Zulassungsverfahren den Gesundheitsbehörden weltweit für ihre Übersichtsarbeiten zur Verfügung gestellt worden. Doch die EMA hat für mindestens 15 Studien keine derartigen Informationen erhalten.

Weil sie die nie anforderte.

Und das bringt uns zur zweiten wichtigen Erkenntnis: Die Zulassungsbehörden sind nicht unfehlbar. Sie machen Fehler, und genau deshalb ist es so wichtig, dass die Entscheidungen, die sie fällen, weltweit unter den Augen vieler überprüft werden.

Das Buch: "Die Pharma-Lüge" - Wie Arzneimittelkonzerne Ärzte irreführen und Patienten schädigen; von Ben Goldacre, 2013, Kiepenheuer & Witsch, Köln. Originalausgabe: "Bad Pharma" (2012). Übersetzt von Anne Emmert und Karin Miedler. Preis 19,99 Euro. Jetzt bestellen unter wiwo-shop.de.

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