Eiskalter Nebel steigt auf. Jochen Maas und Peter Hammann ziehen vorsichtig einen Schieber mit Hunderten Plastikröhrchen aus dem fast 200 Grad kalten Stickstofftank. Was die beiden da in einem Labor des französisch-deutschen Pharmakonzerns Sanofi aus einer Art tiefgekühltem Hochsicherheitstrakt heben, sind teils mehr als 100 Jahre alte Mikroben. Die gut 120.000 Pilz- und Bakterienstämme sind nicht bloß ein unbezahlbarer Schatz des Unternehmens. Vor allem sind sie so etwas wie die Lebensversicherung der Menschheit gegen immer neue Formen extrem aggressiver, lebensbedrohlicher Keime.
Diesen Schatz wollen Maas, Forschungschef von Sanofi Deutschland, und Hammann, der beim Unternehmen weltweit für Innovationen zuständig ist, nun heben. In einem Gemeinschaftsprojekt mit dem Gießener Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie suchen sie nach modernen und hochwirksamen Medikamenten gegen bakterielle Infektionen wie Lungenentzündungen oder Blutvergiftungen – nach neuen Antibiotika.
Wie man Antibiotika richtig einsetzt
Bakterien verändern sich ständig, um sich an wandelnde Umweltbedingungen anzupassen. Kleine Variationen im Erbgut, die Mutationen, verschaffen manchen Mikroben einen Überlebensvorteil. Sie vermehren sich daraufhin stärker als ihre übrigen Artgenossen. Dieses Grundprinzip der Evolution hilft auch Krankheitserregern, sich gegen Antibiotika zu wehren, etwa indem sie Wirkstoffe zerstören, bevor sie ihnen gefährlich werden. Doch man kann es den Keimen schwerer machen, diese Resistenzen zu bilden, wenn einige Dinge beachtet werden.
Auch wenn es banal klingt – nur wenn ein Bakterium mit einem Antibiotikum in Kontakt kommt, bringt ihm eine Resistenz einen Überlebensvorteil. Daher sollten Mediziner die Mittel nur dann verordnen, wenn es aus medizinischen Gründen wirklich erforderlich ist. Doch noch immer setzen sie Antibiotika viel zu lax und häufig ein. Sogar dort, wo sie gar nicht wirken: etwa bei Erkältungen. Die werden meist von Viren verursacht, gegen die jedes Antibiotikum machtlos ist. Erste Schnelltests für Hausärzte gibt es schon, die zwischen Viren oder Bakterien unterscheiden.
Verordnet ein Arzt ein Antibiotikum, darf es nicht zu niedrig dosiert oder die Behandlung zu früh abgebrochen werden. Sonst überleben genau jene Keime, die Abwehrstrategien entwickelt haben. Sie geben die Resistenzen dann an ihre Nachkommen weiter.
Krankenhäuser sind ein Paradies für Keime: Die vielen vorkommenden Erreger können Resistenzgene austauschen; alte, immungeschwächte Patienten bringen neue Keime ins Haus, jede Operation eröffnet den Erregern ideale Einflugschneisen in den Körper. Deshalb ist penible Hygiene und Desinfektion in Kliniken extrem wichtig.
Zahlreiche solcher Wirkstoffe sind schon aus dieser Sammlung hervorgegangen. Doch das ist lange her. Wie fast alle Pharmakonzerne hatte auch Sanofi die Antibiotikaforschung weitgehend aufgegeben. Es gab ja so viele, inzwischen spottbillige Medikamente gegen einst tödliche Seuchen wie Syphilis und Tuberkulose oder gegen Allerweltsinfekte wie Mittelohr- und Blasenentzündungen. Noch entscheidender: Mit Herz- oder Krebsmitteln, die Kranke jahrelang einnehmen müssen, ließ sich viel mehr verdienen als mit Antibiotika. Denn die muss der Patient meist nur wenige Tage schlucken, um gesund zu werden.
Inzwischen hat sich die Lage aber extrem zugespitzt. Die Allzweckwaffe Antibiotikum droht ihre Schlagkraft zu verlieren. Viele Erreger sind resistent geworden. Längst besiegt geglaubte Seuchen kehren zurück. Die Experten der Weltgesundheitsorganisation WHO schlagen bereits lautstark Alarm. In ihrem jüngst veröffentlichten ersten globalen Resistenz-Report malen sie ein geradezu apokalyptisches Bild. Passiere nichts, müssten Ärzte bald wieder hilflos zusehen, wie Menschen an heute gut heilbaren Erkrankungen oder selbst kleinsten Wundinfektionen sterben.
Die Lage ist so brisant, dass selbst Regierungen investieren, um der Pharmaindustrie die Keimabwehr wieder schmackhaft zu machen: Der britische Pharmakonzern GlaxoSmithKline erhält 200 Millionen Dollar vom US-Gesundheitsministerium, um in den kommenden fünf Jahren neue Resistenzbrecher zu entwickeln. Die Europäische Union plant Ähnliches mit dem Programm New Drugs for Bad Bugs.
Inzwischen haben neben Sanofi auch andere Branchengrößen, etwa Roche oder Bayer, eine Kehrtwende gemacht und investieren erneut in die Forschungsfelder, die sie vor Jahren geschlossen oder abgespalten hatten. Sie alle rechnen nun mit guten Geschäften. Angesichts der neuen Notlage sind Kassen und Patienten zumindest in der wohlhabenden Welt bereit, für wirksame Antibiotika viel Geld zu zahlen.
Doch während es Jahre dauern wird, bis aus den jetzt angestoßenen Forschungsprojekten der Branchenriesen marktreife Medikamente entstanden sind, sind einige wenige Pharma- und Biotechfirmen schon weiter, die unbeirrt die Forschung weiter betrieben haben.
Sie sind nun mit neuen Medikamenten schon am Start oder kurz vor der Marktreife. Auf ihnen ruhen große Hoffnungen. Denn auf diese neuen Mittel wird es ankommen, wenn die Menschheit im 21. Jahrhundert das Feld nicht wieder krank machenden Bakterien überlassen will.
Krankenhäuser als Sammelbecken von multiresistenten Keimen
Angriff und Verteidigung, das ist der natürliche Lauf der Evolution – auch im Kampf zwischen Keimen und Medikamenten. Schon seit den Anfangstagen von Penicillin und Co. zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben Krankheitserreger Taktiken entwickelt, um der Wirkung der Antibiotika zu entgehen: Denn die meisten Antibiotika stammen aus Schimmelpilzen oder im Boden lebenden Mikroben, die sich mit den Substanzen gegen lästige Konkurrenz wehren. Die bekämpften Bakterien wiederum kontern mit Resistenzen.
Antibiotika sind heimtückische Waffen: Mal reißen sie Löcher in Zellwände wachsender Bakterien. Mal verhindern sie, dass Keime Schadstoffe ausschleusen, woran die Erreger zugrunde gehen. Oder sie blockieren das Entknäulen des Erbgutstrangs, sodass sich dessen Informationen nicht mehr auslesen lassen. Auch den Bau von Eiweißen zu stoppen ist eine Strategie, um Bakterien am Wachsen zu hindern. Solange ein Krankheitserreger nur Resistenzen gegen einen oder zwei dieser Mechanismen besitzt, lässt er sich meist noch mit einem dritten oder vierten Wirkmechanismus angreifen. Problematisch wurde die Sache erst, als einzelne, mehrfach- und später multiresistente Keime auftraten: Sie hatten so viele Abwehrstrategien entwickelt, dass keines der vielen Hundert Antibiotika noch wirkte.
Mittlerweile ist die Situation prekär: Allein in Europa fallen Jahr für Jahr etwa 25.000 Menschen multiresistenten Keimen zum Opfer. Vor allem in Krankenhäusern ist die Gefahr sehr groß, sich etwa beim Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks mit einem der Hauptübeltäter anzustecken: dem methicillinresistenten Staphylococcus aureus, kurz MRSA. Er verursacht Wund- und Weichteilinfektionen, Blutvergiftungen und Lungenentzündungen.
Und selbst wer einen resistenten Keim überlebt, liegt oft lange in der Klinik und produziert in Deutschland im Schnitt etwa 4000 Euro zusätzliche Kosten. Bezogen auf die Europäische Union, ergibt das samt Produktivitätsverlusten rund 1,5 Milliarden Euro wirtschaftlichen Schaden im Jahr.
Problem-Keime in Krankenhäusern
Etwa drei bis fünf Prozent der Krankenhauserreger sind Stämme des auf Haut und Schleimhaut lebenden multiresistenten Staphylococcus aureus (MRSA), gegen die es noch vier bis fünf wirksame Antibiotika gibt. Andere, im Darm lebende Bakterien (ESBL) hingegen produzieren bestimmte Enzyme, die sie gegen die meisten Antibiotika-Klassen resistent machen. Besonders schwierig sind Infektionen mit KPC (Carbapenemase bildende Bakterien der Art Klebsiella pneumoniae) zu behandeln, weil hier auch Carbapeneme als letzte neue Wirksubstanzen versagen und die Ärzte auf ein veraltetes Antibiotikum ausweichen müssen. Die Entwicklung neuer Antibiotika hinkt hinterher.
Etwa 90 Prozent der Krankenhausinfektionen rühren von Keimen her, die mit einem Antibiotikum wirksam bekämpft werden können. Problematischer sind Erreger, die Resistenzen entwickelt haben. Das geschieht vermutlich unter anderem, weil Antibiotika in der Tiermast, aber auch bei Menschen zu häufig und nicht zielgenau verabreicht werden. Dadurch werden Antibiotika-empfindliche Bakterien abgetötet, während die Antibiotika-resistenten sich umso konkurrenzloser vermehren können.
Das Gros der Keime, die in Krankenhäusern für Infektionen sorgen, sind normalerweise harmlose Bakterien, mit denen viele Menschen besiedelt sind. Geraten diese zumeist im Darm vorkommenden Keime jedoch in Blutbahn, Blase oder Lunge, können sie vor allem immungeschwächten Menschen zur Gefahr werden.
Das Problem ist zu großen Teilen hausgemacht, weil wir mit dem massenhaften Einsatz von Antibiotika bei Mensch und Tier solche Resistenzen geradezu züchten.
Eine Reihe von Maßnahmen könnte nun zumindest verhindern, dass dieser Prozess weiter an Fahrt gewinnt und neue Superkeime schneller entstehen, als die Forscher neue Antibiotika entwickeln können (siehe Kasten links).
Nach Jahrzehnten des Stillstands, in denen nur eine einzige wirklich neue Substanzklasse mit innovativem Wirkmechanismus auf den Markt kam, ist die Antibiotikaforschung endlich wieder in Bewegung geraten. Die Forscher wollen heute nicht mehr eine möglichst breite Dampfwalze entwickeln, die alle nur erdenklichen Bakterien plattmacht. Stattdessen suchen sie jetzt nach Wirkstoffen, die mit gezielten Schlägen die Resistenzen brechen.
Das hätte laut Martin Blaser noch einen ganz anderen – sehr positiven – Effekt. Es würde dazu führen, dass wir unsere eigenen, hilfreichen Bakterien, etwa im Darm, nicht laufend malträtierten. „Das führt zu Folgeschäden, mit denen wir bisher überhaupt nicht gerechnet haben“, warnt der New Yorker Forscher.
Unternehmen auf der Suche nach Mikrobiologen
Ganz weit vorn ist das britisch-schwedische Unternehmen Astra Zeneca. 2012 brachte es mit Ceftarolin einen ersten Resistenzbrecher auf den europäischen Markt, der auch den MRSA-Keim in den Griff bekommt. Astra Zenaca hat als eines von wenigen Pharmaunternehmen die Antibiotikaforschung nie aufgegeben. „Wir haben uns die langjährige Expertise unserer Forscher und Entwickler auf diesem Gebiet erhalten“, freut sich Christian Kreher, der in Deutschland für die Medikamentengruppe zuständig ist.
Konkurrenten dagegen geben unumwunden zu, wie mühsam es ist, überhaupt noch gute Mikrobiologen an Bord zu bekommen. Astra Zeneca dagegen hat 2009 seine Abteilung sogar aufgestockt. Für 400 Millionen Dollar kaufte der Konzern die französische Novexel. Dorthin hatte einst Sanofi seine Antibiotikaforschung ausgegliedert. So landete mit Novexel auch die Medikamenten-Pipeline der Forscher aus Höchst beim Konkurrenten Astra Zeneca.
Darunter ein weiterer hochinteressanter Resistenz-Brecher der neuesten Machart, genannt Avibactam. Den kombinierten Astra-Zeneca-Entwickler mit einem klassischen Breitbandwirkstoff aus der Gruppe der Cephalosporine, die Zellwände durchlöchern. Das Kombipräparat durchläuft gerade die letzten beiden Phasen der Zulassung mit Tests am Menschen.
Der Clou am „Avi“, wie Experte Kreher seine biologische Brechstange liebevoll nennt: Es trickst hartnäckigste multiresistente Bakterien aus, indem es deren Abwehr gegen Cephalosporin außer Kraft setzt. Das gelingt bei fast allen Bakterien, die unseren Körper befallen. Klappt alles, will Astra Zeneca das Kombipräparat 2016 für Harnwegsinfekte und Lungenentzündungen zur Zulassung einreichen.
Dieser Erfolg dürfte die Sanofi-Forscher ebenso betrüben wie die Kollegen bei der schweizerischen Roche, dem eidgenössischen Rivalen Novartis oder bei Bayer in Leverkusen: Denn sie alle haben vor Jahren zahlreiche vielversprechende Ideen aufgegeben. Die damals ausgegründeten Unternehmen Basilea in Basel, Nabriva in Wien und Aicuris in Wuppertal entwickeln die Konzepte nun munter eigenständig weiter.
So besitzt Basilea seit Oktober 2013 die Zulassung für Ceftobiprol, einem Cephalosporin der fünften Generation. Das Besondere daran: Das Mittel wurde so lange im Labor optimiert, bis es mit einer Vielzahl von Killerkeimen zugleich fertig wird. Ceftobiprol soll sie alle schaffen, versichert Basileas Entwicklungschef Achim Kaufhold.
Bisher ist das innovative Präparat zugelassen, um Menschen mit schweren Lungenentzündungen zu helfen. Da für diese Fälle Ausnahmeregeln bei der Abrechnung der Behandlung gelten, konnte Kaufhold mit den Kassen einen für sein Unternehmen sehr attraktiven – sprich hohen – Preis aushandeln. Er will keine Zahlen nennen, Analysten aber schätzen, dass das neue Antibiotikum auf mehr als eine Milliarde Dollar Umsatz kommen wird. „Mit modernen Antibiotika lässt sich schon Geld verdienen“, ist Kaufhold jedenfalls überzeugt.
Roche und Nabriva liegen gleichauf
Dagegen wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis auch der ehemalige Mutterkonzern Roche – 14 Jahre nach der Abtrennung der Basilea – mit einem eigenen Produkt nachziehen kann. Roche verkündete Ende 2013, wieder aktiv in die Antibiotikaforschung einzusteigen, und lizenzierte einen völlig neuen Wirkstoff namens POL7080 vom Schweizer Unternehmen Polyphor. Es hat mit Forschern der Universität Zürich spezielle Peptide entwickelt, die Bakterien dabei stören, Schutzhüllen aufzubauen. Diese Eiweißbruchstücke greifen dabei in ganz andere Mechanismen ein als bisher bekannte Antibiotikaklassen. Die neuartigen Medikamente sollen schwere bakterielle Infektionen heilen, die der ebenfalls mit Resistenzen gespickte Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa verursacht. Er gehört zusammen mit dem MRSA-Erreger zu den sechs weltweit gefährlichsten resistenten Mikroben.
Der Wirkstoff ist in der zweiten Phase der Arzneimittelzulassung. Damit liegt Roche fast gleichauf mit der Novartis-Ausgründung Nabriva: Deren neue Stoffklasse der Pleuromutiline war in Phase-II-Studien bei multiresistenten Erregern von Haut- und Weichteilinfektionen hochwirksam.
Ganz im Verborgenen hat die in Liechtenstein und Regensburg angesiedelte Biotechfirma Lysando derweil einen ganz anderen Ansatz im Kampf gegen Keime entwickelt, der bei Patienten mit wund gelegenen Stellen am Körper, dem Dekubitus, schon gut anschlug.
Das Unternehmen arbeitet wie Roche mit Peptiden. Doch die Eiweißschnipsel, die belgische Forscher erfunden haben, greifen nicht wie klassische Antibiotika in der Wachstumsphase biochemisch in den Bakterienstoffwechsel ein. Stattdessen zerstörten sie diese auch in der Ruhephase, indem sie die Keime richtiggehend physikalisch durchlöchern. „Wir vergiften die Bakterien nicht, wir erschießen sie“, sagt Firmengründer Markus Matuschka von Greiffenclau. Das Gute daran: Gegen Erschießen können nicht mal Keime Resistenzen entwickeln.