Ein ganz normaler Morgen in Wuppertal. Jonas Jahnke stellt sich am Morgen auf die Waage, zückt sein Smartphone und gibt die gemessenen Daten in eine App ein. Auf dem Weg zur Arbeit lässt er seine Schritte zählen, jede Mahlzeit wird genau vermerkt, inklusive durchschnittlicher Kalorienzahl. Geht er zum Sport, trägt er die genauen Daten ebenfalls ein. Abends vor dem Schlafengehen schaut er dann nochmal auf sein Handy: Hat er seine selbst gesteckten Ziele für diesen Tag erreicht?
Mittlerweile hat Jahnke 46 Kilo abgenommen – ein großer Teil davon geht auf das Konto der Apps, die er benutzt. „Das motiviert, wenn man genau sehen kann, dass das Gewicht kontinuierlich fällt und man seine übliche Laufrunde immer schneller abschließt.“
Der Markt für derartige Gesundheits-Apps boomt. Neben Spielen, die die Bewegung des Nutzers mit einbeziehen, gibt es allerhand Anwendungen, um Laufstrecken, verbrauchte Kalorien oder Gewichtsverluste nachzuverfolgen. Viele davon müssen manuell mit Daten gefüttert werden, in Zukunft werden Fitnessbänder und Sensoren einen Teil der Arbeit übernehmen. Der Trend hinter dem Boom derartiger Apps heißt „Quantified Self“: Das vermessene Ich. Die hinter dem Begriff stehende Nutzerbasis verwendet Hard- und Softwarelösungen, mit Hilfe derer umwelt- und personenbezogene Daten erfasst, analysiert und ausgewertet werden, mit der Zielsetzung Gewohnheiten, Ernährung und Bewegung in Einklang zu bringen und zu optimieren.
Die Industrie hat dies erkannt und präsentiert in immer kürzeren Abständen Fitnessbänder, Sensoren und Anwendungen, die die Grenzen zwischen dem realen und dem digitalen Menschen verschwimmen lassen. Hersteller wie Samsung machen daraus bereits ein Geschäft mit so genannten Wearables - also tragbaren Messgeräten. Den Anfang machte der Sportartikelhersteller Nike, der unter dem Begriff Nike+ spezielle Schuhsensoren anbot, mit denen Läufer ihre Aktivitäten erfassen können. Die Entwicklung von Hardware will Nike allerdings einstellen – und sich ganz auf die Softwareentwicklung spezialisieren.
Wie Google Health scheiterte
Wenn es nach Apple und Google geht, könnten die erfassten Daten bald Teil eines großen Netzwerks sein. Im Juni stellte Apple das so genannte Health Kit vor, eine Sammlung von Schnittstellen, die von Entwicklern, mit denen externe Geräte mit iOS-Geräten wie iPhone und iPad gekoppelt werden können. Der Nutzer sieht die Daten dann in der Health-App. Ab Herbst sollen die Anwender davon profitieren können - dann erscheint iOS 8, das Health beinhaltet. Einen ähnlichen Ansatz bietet Google mit dem Programm Google Fit, das laut eigenen Angaben als offene Plattform gestaltet werden soll. Die ersten Partner wurden bereits angekündigt: Neben Hardwarepartnern wie HTC, LG und Intel sind Adidas, Nike und der Sportuhrenhersteller Polar mit von der Partie.
Aktuell ist der Markt vor allem auf die junge Generation ausgerichtet. Für das Gesundheitswesen könnten die neuen Ansätze eine kleine Revolution darstellen, sobald die integrierten Systeme den Massenmarkt erreichen - und genau das können die großen Anbieter schaffen, wenn die Umsetzung stimmt. Die Hardware ist dafür bereit: Smartphones verfügen über Bewegungssensoren und sind in der Lage, die erfassten Daten direkt zu verarbeiten So haben die meisten potentiellen Nutzer ihr Erfassungsgerät bereits in der Hosentasche und müssen für die meisten Anwendungsbereiche keine zusätzliche Hardware kaufen - das senkt die Einstiegshürde. Klaus Reinhardt, Vorstandsvorsitzender des Hartmannbundes, dem größten freuen Ärzteverband in Deutschland, sieht die technischen Möglichkeiten als eine willkommene Ergänzung zur medizinischen Versorgung: "Die erfassten Vitaldaten können dabei helfen, genauere Diagnosen zu stellen." Er räumt allerdings ein, dass solche Daten nur eine Ergänzung, keine Behandlungsgrundlage darstellen dürfen. So können zu Hause durchgeführte Blutdruckmessungen Anhaltspunkte für Gefäßkrankheiten geben, die über die normale ärztliche Versorgung nicht ohne Weiteres erkannt worden wären.
Unternehmen, die mittelfristig mit seinen Fitness- und Gesundheitsanwendungen im Markt bleiben wollen, müssen einen Nerv treffen und außergewöhnliche Ansätze finden. Ein Ansatzpunkt ist das Angebot von Communities. Klassische Beispiele sind die Anwendungen Runtastic und Runkeeper, bei der sportliche Aktivitäten per GPS aufgezeichnet und auf Wunsch live ins Netz gestellt werden können. Andere Nutzer können dort den Sportler unterwegs motivieren - fast so als wären sie mit auf der Strecke. Das motiviert und ist gut für das Ego. Ähnliche Ansätze gibt es im Ernährungsbereich: Die App Noom bringt Abnehmwillige zusammen und hilft ihnen dabei, sich gegenseitig zu regelmäßigen Mahlzeiten zu motivieren. Jahnke nutzt beispielsweise die Trainingsapp Endomondo: „Wenn ich ein wirklich gutes Training hingelegt habe, poste ich hin und wieder Screenshots von Endomondo in den sozialen Netzwerken.“
Doch was genau stellen die Appanbieter mit den Daten an? Die meisten nutzen sie, um Ernährungs- oder Trainingsempfehlungen zu erstellen - ohne Daten gibt es allerdings auch keine Tipps. So kommen nur jene Nutzer in den Genuss des vollen Funktionsumfangs, die bereit sind, ihre Daten einem Unternehmen offenzulegen. Bisher fehlt allen Apps aber etwas Wichtiges für den kompletten Überblick: medizinische Fachdaten, die zumindest in der EU aus datenschutzrechtlichen Gründen bei den Ärzten verbleiben. Für einen durchschnittlich gesunden Menschen wäre die Auflistung solcher Daten weniger gefährlich als für solche mit chronischen Krankheiten. Das Stichwort hier ist Big Data: Versicherungen und große Arbeitgeber könnten solche Daten von Händlern kaufen, um zu erfahren, welche Krankheiten und Risikofaktoren ein Kunde oder Mitarbeiter mit sich bringt.
An fehlenden Daten scheiterte 2008 das erste Projekt von Google, Google Health. Dabei sollte Nutzern ermöglicht werden, Daten verschiedener Anbieter an einem Ort zu sammeln. Im Januar 2012 wurde das Projekt eingestellt – mangels vorhandener Nutzerbasis. Googles neues Angebot Google Fit verzichtet jetzt auf den Ansatz, echte medizinische Daten zu nutzen, stattdessen will man sich auf Sport und Ernährung konzentrieren. Apple hingegen will gezielt in den Medizinmarkt einsteigen und hat hierfür auch schon starke Partner gefunden. Der mit Abstand wichtigste ist Epic Systems, ein Privatunternehmen, das etwa die Hälfte aller Patientendaten in den USA verwaltet. Ein Nachteil für die Mediziner ist die Menge der Daten. Nicht alle sind relevant für eine Diagnose, einige sind veraltet – und was passiert, wenn dem behandelnden Arzt anhand der Daten ein Behandlungsfehler geschieht, ist ebenfalls nicht klar. Reinhardt vom Hartmannbund sieht das weniger kritisch: "Ein Arzt sollte die Daten hinterfragen und sie nicht als Grundlage für eine Diagnose nutzen. Sie können lediglich einen Hinweis geben."
Patientendaten in Deutschland unter Verschluss
In Deutschland wäre so etwas derzeit ohnehin undenkbar: Patientendaten werden von Ärzten und Kliniken unter Verschluss gehalten. Ein Vorstoß in Richtung Digitalisierung und Öffnung der Systeme sollte die Elektronische Gesundheitsakte sein, die in Deutschland bislang aber noch nicht eingeführt wurde. Als Zugangsschlüssel sollte die neu eingeführte Elektronische Gesundheitskarte genutzt werden. Reinhardt begrüßt die Einführung eines elektronischen Patientendatensystems: "Aktuell werden Medizindaten oft noch direkt weitergegeben, zum Beispiel per Fax, ohne spezielle Sicherheitsvorkehrungen. Wünschenswert wäre die digitale Weitergabe über sichere VPN-Verbindungen, auf die nur die Praxen zugreifen können."
Der Datenschutz ist auch für Nils Schröder, den Sprecher des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen, ein wichtiges Thema. „Gesundheitsdaten sind nach europäischem und deutschem Recht besondere Datenarten, die nur mit besonderer Rechtsgrundlage und in der Regel nur mit besonderen technisch-organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen verarbeitet werden dürfen.“ Offen ist, wie diese Sicherheitsvorkehrungen aussehen sollen und an welcher Stelle sie greifen müssen. Ein Test der Rheinischen Post ergab im Juni, dass die Barrieren bei den Krankenkassen leicht zu umgehen sind – und so Unbefugten Zugang zu sensiblen Patientendaten wie Diagnosen, verordneten Medikamenten und anderen Details gegeben wurde.
Wichtig ist auch, welchen Einfluss der Patient auf die Weitergabe der Daten hat. „Entscheidend für das informationelle Selbstbestimmungsrecht ist, dass man grundsätzlich selbst frei entscheiden kann, wer etwas über einen weiß“, so Schröder. „Mittelfristig ist allerdings die Europäische Datenschutzgrundverordnung geplant, die entweder unmittelbar geltendes Recht auch für Deutschland schafft oder einen neuen Rahmen für die deutsche Gesetzgebung setzt.“ Einige Nutzer würden dies begrüßen und könnten sich sogar vorstellen, die selbst erfassten Daten freizugeben. So sieht das auch der Freizeitsportler Jonas Jahnke: „Wenn es Vorteile bringen würde, klar.“ Ein Vorteil könnte die engere Zusammenarbeit zwischen Patient und Arzt sein. Anhand aktueller Vitalwerte könnte dieser zum Beispiel erkennen, wie es um den Verlauf einer Diät steckt - und bei Bedarf eingreifend Tipps geben. Klaus Reinhardt nutzt solche Daten in seiner Bielefelder Praxis immer häufiger: "Oft kommen Patienten zu mir, die mir aktuell gemessene Werte auf ihren Smartphones vorlegen." Die Daten helfen dem Arzt bei der genaueren Erörterung von gesundheitlichen Problemen - und am Ende auch oft auch bei der Diagnose.
Mit Hilfe der sogenannten Telemedizin können Untersuchungen wie Blutdruckmessung oder Blutzuckerspiegel von zu Hause aus direkt an den behandelnden Mediziner übertragen werden – ein Besuch in der Praxis entfällt. Auch Reinhardt sieht hier einen Vorteil: "Die neuen technologischen Möglichkeiten fördern die Selbstbeobachtung des Patienten - und sorgen dafür, dass Patienten aufgeklärter in die Praxis kommen." Er sieht die Entwicklungen als Gewinn für die Medizin an und hält die Selbstbeobachtung für eine sinnvolle Ergänzung der üblichen medizinischen Versorgung.
Was allerdings die Verquickung von Sport- und Vitaldaten mit medizinischen Diagnosen angeht, gilt es skeptisch zu bleiben. Vor allem weil die Anbieter der meisten Fitnessapps in den USA sitzen - dort gelten andere Regeln für die Weitergabe von Daten. Schröder warnt: "In Profilen können Informationen aus verschiedenen Quellen verknüpft werden, die ein recht genaues Persönlichkeitsbild zeichnen, das der Einzelne nicht kontrollieren kann." Interessant sind solche Daten unter anderem für den Marketingbereich, Anbieter von Fitnessprodukten, Nahrungsergänzungsmitteln und Medizinprodukten hätten so direkten Zugriff auf ihre potentielle Kundschaft. Viele Apps und intelligente Sportgeräte lassen sich allerdings ohne Netzverbindung gar nicht benutzen. Wer nicht möchte, dass seine Daten an die Hersteller weitergegeben werden, der muss auf die kleinen Helferlein verzichten.
Apple und Google halten sich bisher noch zurück, was konkrete Aussagen zu Health Kit, Google Fit und den Datenschutz angeht. Mit der Vorstellung von Apples Smartwatch iTime wird sich dies vermutlich ändern und der Nutzer weiß, was mit seinen Daten genau passiert.