
Das kleine Grüppchen deutscher Journalisten, das in den späten Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die Fußgängerzone von Norwegens Hauptstadt Oslo hinaufbummelt, sieht höchst Ungewöhnliches. Während daheim der gerade erst gestartete digitale Mobilfunk noch eine ebenso teure wie elitäre Kommunikationsform ist, während Handybesitzer mehr als Wichtigtuer verlacht, denn als effektive Netzwerker bewundert werden, stehen die Dinge bei den Skandinaviern ganz anders.





Gefühlt jeder Zweite, der die Karl Johans Gate entlang schlendert, hat ein Handy am Gürtel hängen, viele Passanten stehen – nur scheinbar in Selbstgespräche vertieft – vor den Schaufenstern und plaudern tatsächlich via Handy mit ihren entfernten Gesprächspartnern. Der vermeintlich so skurrile Anblick ist eine höchst exakte Blaupause für das, was sich in den Jahren danach auch bei uns zum kommunikativen Normalfall des Smartphone-Zeitalters entwickelt.
Genau daran musste ich denken, als gestern noch einmal eine Technologie in der Berichterstattung aufblitzte, die viele in den vergangenen Wochen und Monaten schon als gescheitert abgeschrieben haben: Datenbrillen, deren prominentestem Exemplar – Google Glass – der Internet-Gigant gestern vorerst einmal die rote Karte gezeigt hat.
In der bisherigen Form zumindest, wird das Projekt nicht mehr weiter geführt. Wer noch eines der Exemplare aus der ersten Serie, der „Explorer Edition“ kaufen will, der muss sich beeilen. Am 19. Januar beendet Google den Verkauf.
Fakten zu Google Glass
Die Datenbrille ist für den Internet-Konzern ein Prestigeprojekt – Mitgründer Sergey Brin kümmert sich darum persönlich. Seine Vision: Mithilfe des kleinen Bildschirms soll das Internet noch nahtloser in den Alltag integriert werden, etwa indem dort Informationen wie Wegbeschreibungen, E-Mails oder das Wetter eingeblendet werden.
Google Glass war anfangs noch nicht reif für den Massenmarkt, Google versorgte einige Tausend Testnutzer mit Brillen. Sie mussten 1500 Dollar plus Steuern zahlen. Im April 2014 hat der Konzern das Gerät in den freien Verkauf gegeben, allerdings nur in den USA und in begrenzter Stückzahl.
Auch andere Unternehmen arbeiten an einer Datenbrille, etwa Olympus und Epson. Allerdings richten sich die Konkurrenzmodelle nicht unbedingt an Privatnutzer, sondern eher an Unternehmen, die eines Tages etwa Lagerarbeiter damit ausstatten könnten.
Andere Anbieter arbeiten ebenfalls an tragbaren Geräten, die sich mit dem Computer verbinden können. In sind derzeit Smartwatches wie beispielsweise von Samsung, Sony oder Pebble.
War’s das also mit den smarten Brillen? Haben Datenschutzbedenken, technische Schwachstellen (wie Stromverbrauch, Darstellungslimitationen) oder Tücken bei der Bedienung sich als so gravierend erwiesen, dass die Mikrodisplays überm Augenwinkel das gleiche Schicksal ereilt wie andere, einst so gefeierte Ideen wie etwa fliegende Autos?
Mitnichten. So wie wir uns heute kaum mehr vorstellen, können ohne Handy unterwegs zu sein, wie der schnelle Wisch übers Großdisplay am Taschentelefon uns das Wissen des Internets an fast jeder Stelle zugänglich macht und so wie Smartphones eben nicht mehr belächeltes Accessoire aufgeblasener Wichtigtuer sondern Statussymbole einer neuen Generation geworden sind, für die das Telefon wichtiger ist als ein eigenes Auto – so wird sich auch die Akzeptanz der Mikrodisplays vor dem Auge in den kommenden Jahren radikal wandeln.





Schon in Googles erster Glass-Edition war die Technik auf ein bemerkenswert winziges Maß zusammengeschrumpft. Doch was wir künftig erwarten können, wird noch weit winziger.
Der japanische Technikkonzern Brother etwa arbeitet seit Jahren an einer Technik, die ganz ohne externes Display auskommt und stattdessen – mithilfe von Laserlicht einer ungefährlichen Wellenlänge – Bilder aus dem Augenwinkel direkt auf die Netzhaut projiziert. Einen eigenen Bildschirm vor dem Auge braucht‘s dafür nicht mehr.
Forscher am Centre of Microsystems (CEMST) an der Universität Gent haben bereits vor gut zwei Jahren erste Prototypen durchsichtiger Kontaktlinsen mit integriertem Flüssigkristallbildschirm vorgestellt. Und auch Google selbst hat im vergangenen Frühjahr einen Patentantrag für ein ähnliches Linsenkonzept eingereicht, das neben des Displayfunktion sogar noch einen Bildsensor enthalten soll.
Noch ist das alles von Marktreife weit entfernt. Aber die technischen Möglichkeiten, die Ideen umzusetzen gibt es schon. Die Miniaturisierung schreitet voran, die Leistungsfähigkeit von Akkus wächst und – ganz wichtig – die Akzeptanz der Menschen für die allgegenwärtige Vernetzung und die daraus resultierenden neuen Anwendungen wachsen kontinuierlich.
Zwischen dem Bummel der verblüfften Deutschen Journalisten durch Oslo und der Vorstellung des ersten iPhone, mit dem Apple den Grundstein für die folgende Smartphone-Revolution gelegt hat, sind ziemlich genau zehn Jahre vergangen. Das sollte im Kopf behalten, wer Glass und Co heute als Irrweg abschreibt.
2025 – darauf wäre ich bereit, Einiges zu verwetten – werden die Mikrodisplays vor dem Auge allgemein akzeptiere Alltagstechnik sein. Und Google hat gute Chancen, zu den führenden Anbietern der Technik (und mehr noch: der damit genutzten Services) zu gehören.