Eigentlich verfügt Amazon-Boss Jeff Bezos nach mehr als 20 Jahren Erfahrung an der Spitze des weltgrößten Online-Kaufhauses über ein gutes Gespür für die Wünsche von Nutzern, aber vor allem auch für wichtige IT-Trends.
So hat er sein Unternehmen beispielsweise mit dem E-Reader Kindle frühzeitig auf das boomende Geschäft mit E-Books ausgerichtet. Und das später veröffentlichte und zum Tablet aufgemotzte Kindle Fire konnte erfolgreich gegen das iPad von Apple konkurrieren. Insgesamt hat Bezos ein Kindle-Ökosystem aufgebaut, das bereits 2013 für gut ein Drittel des operativen Gewinns von Amazon erwirtschaftete.
Ebenjenes Ökosystem wollte Bezos eigentlich mit dem ersten Amazon Smartphone, dem Fire Phone, weiter ausbauen und vergrößern. Das mit einer abgespeckten und um Google-Dienste befreiten Android-Version laufende Gerät ist in den USA im vergangenen Sommer für 199 Dollar auf den Markt gekommen und sollte ursprünglich ein ernstzunehmender iPhone-Konkurrent sein.
Heute, ein gutes halbes Jahr später, ist klar: Das Fire Phone hat sich für Amazon zu einem gigantischen Flop entwickelt, das Unternehmen verhökert es im Heimatmarkt für 99 Cent. Anfang Dezember räumte Bezos öffentlich „milliardenschwere Fehler“ bei seinem Unternehmen ein. Allein wegen der hohen Lagerbestände des Fire Phones musste Amazon im dritten Quartal 170 Millionen Dollar abschreiben.
Das amerikanische Tech-Magazin „Fast Company“ ist nun in einer langen Geschichte den Gründen dieses Flops nachgegangen. Autor Austin Carr hat laut eigener Aussage mit diversen Unternehmens-Kennern und Insidern gesprochen. Ihnen zufolge habe Bezos beim Fire Phone schlicht den Fokus verloren – im Unterschied zu früheren mutigen Vorstößen wie etwa beim Kindle oder das inzwischen sehr erfolgreiche Cloud-Geschäft Amazon Web Services.
Dabei ist das Fire Phone laut Aussage eines involvierten Teamleiters von Anfang an „Jeff’s Baby“ – so wie viele andere Innovationen bei Amazon. Das ambitionierte Projekt mit dem Codenamen „Tyto“ – Lateinisch für die Gattung der Schleiereulen – startet demnach im Herbst 2010, ungefähr zum Start von Apples iPhone 4.
Der Wunsch für ein eigenes Amazon-Phone ist offensichtlich: Insgesamt bewegt sich die Welt seit Jahren weg von stationären PCs hin zu Mobilgeräten wie Smartphones und Tablets. Auch Amazon-Nutzer tätigen Ihre Einkäufe zunehmend mobil. Die möglichst vollständige Kontrolle der gesamten mobilen Wertschöpfungskette ist für Amazon daher enorm wichtig.
Bei der Planung eines eigenen Amazon-Handys treibt Bezos seine Leute vor allem mit einer Zielvorgabe an: Erzeugt einen Wow-Moment beim Käufer durch etwas Großes und Besonderes. Nur dadurch, so seine Überzeugung, könne Amazon überhaupt Kunden weg vom iPhone locken.
Aufstieg mit Schattenseiten: Wie funktioniert Amazon?
Jeff Bezos gründete amazon.com im Jahr 1995. Den deutschen Ableger amazon.de gibt es seit 1998. Groß wurde das Unternehmen mit dem Versand von Büchern, Videos und Musik-CDs. Seit dem Jahr 2000 können auch fremde Händler ihre Produkte bei Amazon anbieten. Mittlerweile macht der Konzern mit Sitz in Seattle zwei Drittel seines Umsatzes mit Waren wie Computern, Digitalkameras, Mode oder Lebensmitteln. Amazon ist auch einer der Vorreiter bei elektronischen Büchern sowie Musik- und Video-Downloads. Zweites großes Standbein neben dem Handel sind die Webservices mit dem Cloud Computing.
Amazon fährt eine riskante Wachstumsstrategie: Der Konzern lockt die Kunden mit günstigen Preisen sowie einer schnellen und vielfach kostenlosen Lieferung. Zudem investiert er kräftig, in die Versandzentren wie auch in die Entwicklung neuer Technologie. Dieser Wachstumskurs hat jedoch eine Kehrseite: Die Gewinnmargen sind eher dünn. Im vergangenen Jahr machte Amazon einen Verlust von 39 Millionen Dollar. Im ersten Quartal blieben unterm Strich 108 Millionen Dollar (78 Millionen Euro) – bei einem Handelsumsatz von 19,7 Milliarden Dollar.
Es ist der größte Auslandsmarkt. Im vergangenen Jahr setzte Amazon hierzulande 8,7 Milliarden Dollar um, umgerechnet sind das derzeit etwa 6,5 Milliarden Euro. Damit lag Deutschland noch vor Japan mit 7,8 Milliarden Dollar und Großbritannien mit 6,5 Milliarden Dollar. Der wichtigste Markt überhaupt ist allerdings Nordamerika mit 34,8 Milliarden Dollar. Amazon wuchs in seiner Heimat zuletzt auch deutlich schneller als im Ausland.
Gemessen am Einzelhandelsumsatz insgesamt ist die Rolle von Amazon überschaubar. Etwa 1,5 Prozent trägt Amazon zum Branchenumsatz von fast 428 Milliarden Euro bei. Das meiste sind jedoch Lebensmittel. Betrachtet man den Online-Handel von Unterhaltungselektronik bis hin zu Büchern, sieht die Sache ganz anders aus: Amazon hält hier fast ein Viertel des Marktes.
In Deutschland unterhält das Unternehmen Logistikzentren in Graben bei Augsburg, Bad Hersfeld, Leipzig, Rheinberg, Werne, Pforzheim und Koblenz. Dort arbeiten nach Auskunft von Amazon etwa 7700 fest angestellte Vollzeitmitarbeiter. In Spitzenzeiten wie dem Weihnachtsgeschäft kommen in jedem dieser Zentren Tausende Saisonkräfte hinzu. Weltweit arbeiteten zum Jahreswechsel 88.400 Festangestellte im Unternehmen.
Amazon selbst äußerte sich auf Nachfrage bisher nicht dazu, ob seit der Ausstrahlung der ARD-Doku weniger bestellt wurde. Doch ein Vergleich legt nahe: Zu große Sorgen muss sich Amazon wohl nicht machen. Auch über den deutschen Rivalen Zalando tobte bereits ein - wenn auch kleinerer - Sturm der Aufregung nach Berichten über schlechte Arbeitsbedingungen. Am rasanten Umsatzwachstum änderte das nichts. Von 2011 auf 2012 verdoppelte Zalando seine Erlöse von 510 Millionen auf 1,15 Milliarden Euro.
Das ist schwer abzuschätzen. Die Empörung hat auch die Politik erreicht und es ist Wahlkampf. Die Vorwürfe wegen der schlechten Behandlung von Leih- und Zeitarbeitern richten sich aber primär gegen die Leiharbeitsfirmen. Denen droht das Bundesarbeitsministerium inzwischen mit einer Sonderprüfung. Die Firmen selbst äußern sich nicht. Die Bezahlung bei Amazon entspricht aber wohl den gültigen Standards. Mit einem Bruttostundenlohn von mindestens 9,30 Euro zahlt Amazon mehr als den gesetzlichen Mindestlohn für Zeitarbeiter, der derzeit im Westen bei 8,19 Euro und im Osten bei 7,50 Euro liegt.
In Großbritannien gab es im vergangenen Jahr eine Debatte darüber, wie sich Amazon und andere US-Konzerne mit legalen Tricks vor dem Steuerzahlen drückten. Ein Amazon-Vertreter musste vor einem Ausschuss des Parlaments erscheinen und wurde dort von den Parlamentariern vor laufenden Kameras in die Mangel genommen. In den USA hatten sich Mitarbeiter darüber beschwert, dass sie im heißen Sommer in unklimatisierten Lagerhallen schuften mussten. Nach US-Medienberichten erlitten mehrere Beschäftigte Schwächeanfälle. Amazon reagierte und rüstete Klimaanlagen nach.
Genau hier habe der grundlegende Fehler des gesamten Fire-Projekts gelegen: Während Bezos bei früheren Innovationen stets die Kundenwünsche als Maßstab angelegt habe, sei dieses Mal er selbst jener Referenzkunde gewesen, der eine Liste mit wünschenswerten Features an das Tyto-Team weitergereicht habe.
Auch in den folgenden Jahren der Weiterentwicklung hat sich Bezos laut Insidern als „Super Product Manager“ des Fire Phones geriert: Er taucht regelmäßig im Entwicklungslabor auf und malträtiert das Projekt-Team mit immer neuen Vorgaben – bis hin zum Wunsch, statt einer 8-Megapixel-Kamera müsse das Gerät unbedingt über eine mit einer 13-Megapixel-Auflösung verfügen.
Bezos kontrolliert alles – die komplette Hardware wie auch die Software. Oder, wie es ein anderer Projektbeteiligter ausdrückt: „Wir bauten das Phone nicht für den Kunden – wir bauten es für Jeff.“
Am Kunden vorbei entwickelt
Vor allem eine technische Spielerei hat es Bezos angetan: ein neues 3D-Feature namens Dynamic Perspective. Dabei lautet die Vorgabe an die Entwickler: Baut ein 3D-Display, das ohne Brille und aus möglichst vielen Blickwinkeln funktioniert. Immer wieder triezt Bezos seine Leute, stachelt sie an, heuert gar neue Entwickler an – bis Dynamic Perspective schließlich funktioniert.
Aber zu welchem Preis: Amazon muss vier Front-Kameras auf der Vorderseite des Gerät einbauen – Hauptgrund für den enormen Stromverbrauch des Fire Phones, und einer der wichtigsten Mängel der Kritiker, nämlich die zu kurzen Akku-Laufzeiten insbesondere im Vergleich zum iPhone.
Damit nicht genug: Keiner der Entwickler weiß so genau, warum Bezos das Thema 3D überhaupt so stark propagiert – denn bis auf ein paar Spaß-Anwendungen sind die Einsatzmöglichkeiten begrenzt. Offenbar ist Bezos schlicht getrieben von dem schon manisch anmutenden Wunsch, dem Fire Phone eine Art unverkennbares Feature zu verleihen – ähnlich wie der Sprachassistent Siri beim iPhone.
Die Folge: Amazon investiert massiv Zeit und Geld – ein Insider: „surreale Summen“ – in ein Feature mit begrenztem Nutzen für den Kunden. Einzig und allein deshalb, weil Bezos es verlangt. Internen Widerstand gibt es kaum, schließlich hat Bezos bei vielen anderen Dingen wie etwa dem Lieferservice Amazon Prime auch richtig gelegen, obwohl viele Kritiker zunächst skeptisch waren.
Anfang 2013 ist das Tyto-Team immer noch nicht wesentlich vorangekommen. Bezos entscheidet, unter dem Projektnamen „Duke“ noch einmal von vorn anzufangen. Und als eine Art Auffangnetz, als Backup-Plan, arbeitet ein zweites Team an einer preisgünstigen Duke-Alternative mit dem Code-Namen „Otus“.
Doch Bezos‘ Augenmerk bleibt auf dem Highend-Smartphone, denn er ist geradezu besessen davon, auf Augenhöhe mit Apple zu kommen. Das bleibt er bis Juni 2014, als er das Fire Phone in Seattle schließlich vorstellt – und dabei immer wieder das 3D-Feature Dynamic Perspective hervorhebt.
Die Quittung für jenen Kurs bekommt Bezos schnell: Kurz nach dem Marktstart im Juli hagelt es Verrisse von Smartphone-Experten, die insbesondere das von Bezos so stark vorangetriebene 3D-Feature als „sinnlos“ und „verwirrend“ kritisieren. Und die Kunden? Sie bemängeln vor allem eins – die zu hohen Kosten des Geräts.
Anders ausgedrückt: Amazon hat das Fire Phone sowohl bei den Funktionen wie auch beim Preis total am Kunden vorbei entwickelt. Angeblich hat sich das Smartphone bis zu dem radikalen Preisnachlass nur einige zehntausend Mal verkauft.
Was die Geschichte des Fire Phones eindrucksvoll beweist: Die Welt braucht keinen zweiten Steve Jobs. Aber: Gut möglich, dass Amazon sein Smartphone in einer zweiten Auflage deutlich besser hinbekommt, so wie es etwa bei den Kindle-Geräten in der Vergangenheit ebenfalls der Fall war. Wenn sich Bezos wieder auf seine Stärken besinnt – und den Kunden in den Mittelpunkt stellt.