
Zum Geburtstag bekam ich von einem Freund eine Selfie-Stange geschenkt. Das Blöde war nur: Ich hatte kurz zuvor meine Meinung zu diesen Dingern geändert. Ich fand sie seitdem doof. Irgendwie hatte sich diese Ablehnung ganz unterbewusst in mich geschlichen. Meine Enttäuschung aber flog sofort auf: "Mein Geschenk scheint nicht gerade ein Volltreffer zu sein, was?"
"Ach, naja, es ist ja lieb gemeint, aber ich glaube, meine Affen-Arme sind lang genug für Selfies."
Wir pflegen in unserem Freundeskreis das Prinzip Vertrauen durch Ehrlichkeit. Ich hätte nun lange argumentieren können: Das Tolle an einem Handy mit Kamera ist ja, man hat immer einen Fotoapparat in der Tasche, aber so eine Teleskopstange muss man bewusst einpacken. Das nimmt dem Ganzen die Spontanität. Blablabla.





Die Wahrheit ist: Ich finde Selfiestangen-Menschen komisch. Für Selfiestangen-Menschen kommt es beim Fotografieren nicht darauf an, eine einzigartigen Moment, eine besondere Stimmung oder einen faszinierenden Blick auf die Welt festzuhalten. Es kommt ihnen darauf an, ihre eigene grinsende Visage als Beweis auf Sehenswürdigkeiten draufzustempeln. "Guck, da war ich auch." Ein tolles Foto von den Niagara-Fällen gibt es tausendfach auf Facebook. Aber die Niagara-Fälle mit Bianca und Hanko Jöllenbecker im Vordergrund, dieses Foto haben nur die Jöllenbeckers in ihrem gemeinsamen Profil. Und schon fünfzehn Likes.
Ballermann auf Rädern
In der neuen Netflix-Serie Sense8, über die alle Welt spricht und die auch in Berlin spielt, kommt im Vorspann ein Bierbike vor. Eine Freundin maulte: "Oh Gott, was soll denn nun die anderen Leute von Deutschland denken?"
Wahrscheinlich denken sie nur Gutes: Diese Deutschen. Da lassen sie sogar mal auf ihren heiligen Straßen Fünfe gerade sein. Die können aus sich hinaus. Witzig!
Was die Welt nicht weiß: Der Ruf der Bierbikes ist hierzulande ruiniert. Und zwar wieder einmal durch deren Nutzer. Die eigentlich ganz nette Idee "gemeinsam durch die Gegend gondeln, zusammen lachen, was Schönes trinken, der Steuermann bleibt nüchtern" wurde verkehrt in "mitten im Straßenverkehr Mut ansaufen und dann im Rausch durch prolliges Gegröhle zu Scheißmusik die Aufmerksamkeit der anderen Verkehrsteilnehmer auf sich ziehen, um den Mitfahrern zu imponieren". Ballermann auf Rädern, schrieb einst die Welt am Sonntag. Passt. Und als Passant ist man hin und her gerissen zwischen Fremdscham und Empörung. Bierbiken ist wie Pupsen im Aufzug. Man macht es einfach nicht.





Und so haben auch andere Dinge ihre gesellschaftliche Akzeptanz verloren, die einst hoch im Kurs standen. Etwa Handy-Klingeltöne: Einst ein akustisches Accessoire, ein Statement, geprägt auch von der Faszination davon, was heutzutage technisch alles möglich ist. Ein Telefon, das tutet wie ein Kreuzfahrtschiff oder miaut wie ein Kätzchen - verrückt! Noch vor fünf Jahren konnte man Menschen in der U-Bahn mit einem gut gewählten Klingelton ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Wer heute im ICE sein Telefon länger als fünf Sekunden klingeln lässt, gilt als komplett verpeilt, es sei denn er entschuldigt sich. Heute gilt es als schick, zu merken, dass jemand anruft, ohne dass es andere merken.
Wie kommt das? Letztendlich geht es immer um Innovationen, die das Potenzial haben, anderen auf den Senkel zu gehen. Hier kann das Fallbeil der öffentlichen Ächtung Geschäftsmodelle in nur Monaten vernichten. Den Supergau haben die Strategen von Google erlebt. Ihre Datenbrille Glas hatte es noch nicht einmal auf den Massenmarkt geschafft, da war sie in ihrer Heimat Kalifornien dank der eingebauten Minikamera schon verhasst unter den Mitmenschen der Testtäger. In San Francisco hingen Schilder an Eingängen einiger Restaurants und Bars: "Google Glas muss draußen bleiben". Gesellschaftliche Isolation dank Innovation. Das war der Tod des Milliarden-Projekts. Es trifft selbst Weltkonzerne.