Wintersport Airbags sollen Skifahrern das Leben retten

Die Airbag-Technik aus dem Motorradsport könnte künftig Skirennfahrer schützen – und bald auch Freizeitskifahrer. Wie weit die Technik ist und wie die Schutzengel aus Luft funktionieren.

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Künftig sollen Body-Airbags Skifahrer vor schweren Verletzungen schützen. Quelle: dpa

Beim Anschauen des Videos stockt einem noch heute der Atem: Während des Abfahrtsrennens der Olympischen Winterspiele 1998 im japanischen Nagano katapultiert eine Bodenwelle Österreichs Skistar Hermann Maier bei voller Fahrt in die Luft. Er verliert die Kontrolle, überschlägt sich mehrfach auf der eisigen Piste und wirbelt, wie eine menschliche Schlenkerpuppe, gut 40 Meter durch die Luft, bevor er in die Fangzäune fliegt. Benommen bleibt er am Streckenrand liegen.

Was sich in diesem Moment niemand vorzustellen vermag: Maier ist bei dem Horrorcrash fast unverletzt geblieben. Und nicht nur das. Drei Tage nach dem spektakulären Sturz startet er beim Super-G-Rennen – und gewinnt Gold.

So viel Glück wie der seither „Herminator“ genannte Athlet haben im Skizirkus längst nicht alle. Allein beim ebenso berühmten wie riskanten Hahnenkamm-Rennen im österreichischen Kitzbühel stürzten seit 2008 der Österreicher Hans Grugger, der Schweizer Daniel Albrecht und der Amerikaner Scott Macartney jeweils so schwer, dass sie teils wochenlang im Koma lagen.

Solche spektakulären Unfälle werden sich im Millionengeschäft des Wintersports mit seiner Gier nach immer neuen Rekorden nie völlig verhindern lassen. Doch ein Techniktransfer aus dem Motorradsport soll jetzt das Verletzungsrisiko zumindest deutlich reduzieren.

Airbags für Skifahrer

Vor wenigen Tagen erst, passend zur 74. Auflage des Klassikers am Hahnenkamm, präsentierten dafür der Weltskiverband FIS und der italienische Sportausrüster Dainese einen Airbag für Skirennfahrer.

Ähnliche Trends gibt es auch in anderen Disziplinen vom Fahrradfahren bis zum Reiten; auch dort sollen Luftsäcke für mehr Sicherheit sorgen.

Dainese D-Air: Sieben Sensoren steuern die autonome Auslösung der Weste unter dem Skioverall. Preis noch offen. Quelle: PR

D-Air Ski heißt der neue Airbag von Dainese. Er lehnt sich technisch an ein Modell an, das der Hersteller seit 2011 für Motorradrennfahrer produziert, inzwischen aber auch Alltagsfahrern verkauft.

Die Skitechnik ist vorerst noch Profis vorbehalten, die sie wohl ab kommender Saison nutzen werden. „Doch natürlich wollen wir die Airbags auch massentauglich machen“, sagt Daineses für die Airbags verantwortlicher Strategiemanager Vittorio Cafaggi.

Extraschutz für Schulter, Nacken und Rumpf

Um Motorradfahrer vor Nackenverletzungen zu schützen, nutzt auch Hersteller Spidi einen Airbag mit Seilauslösung. Den Rumpf polstern traditionelle Protektoren in der Leder-Kombi ab. Ab 600 Euro. Quelle: PR

Rennläufer allein könnten die Investition in die Technik auch kaum refinanzieren: Angeblich ist ein sechsstelliger Euro-Betrag allein in den D-Air Ski geflossen. Insgesamt summieren sich die Kosten des Airbag-Projekts auf mehr als fünf Millionen Euro. Billig wird das Plus an Sicherheit also definitiv nicht. Zwar nennt Cafaggi noch keine Preise für die Skivariante, doch billiger als das Modell für Motorradfahrer wird sie sicher nicht. Und die kostet gut 1.200 Euro.

Die Rettungsgeräte ähneln Schwimmwesten. Unterm Skianzug getragen, sollen sie den Protektor ergänzen, mit dem Sportler den Rücken schützen. Mit den etablierten Lawinen-Airbags haben sie nur die Luft gemeinsam, die sie füllt. Und während Skifahrer den Lawinenschutz im Rucksack tragen und manuell auslösen müssen, arbeitet der 800 Gramm schwere D-Air autonom.

Auf die Knochen: Welche Körperregionen bei Skiunfällen betroffen sind. (zum Vergrößern bitte anklicken)

Schneller als ein Lidschlag

Ein in die Schutzweste integrierter Minirechner steuert den Luftretter, er wertet Daten von sieben Bewegungs- und Positionssensoren aus. Im Notfall aktiviert er eine Druckkartusche, die das hochfeste Spezialgewebe mit acht Liter kalter Luft füllt und ein pralles Schutzpolster über den Oberkörper legt. Gerade einmal 100 Millisekunden dauert das – weniger als das Viertel eines Lidschlags.

„Obwohl der D-Air aufgeblasen nur fünf Zentimeter dick ist, kann er die Aufprallkräfte um bis zu 61 Prozent absorbieren“, verspricht Cafaggi und verweist auf Tests nach EU-Vorgaben für Motorradprotektoren: „Für solche Skiausrüstungen gibt es einfach noch keine Testmethoden.“

Der Extraschutz für Schulter, Nacken und Rumpf ist durchaus sinnvoll. Denn diese Körperregionen sind den Statistiken der Auswertungsstelle Skiunfälle zufolge mit knapp 30 Prozent der stationär behandelten Fälle sehr oft betroffen (siehe Grafik oben). Nur das Kniegelenk nimmt mit 37,2 Prozent der Fälle noch öfter Schaden. Kopf und Hals dagegen werden mit nicht einmal zehn Prozent weit seltener verletzt – selbst wenn Skiunfälle wie kürzlich der schwere Sturz von Ex-Formel-1-Pilot Michael Schumacher anderes vermuten lassen.

„Der Kopf wird mittlerweile relativ selten verletzt, weil gut vier von fünf Fahrern seit dem Skiunfall des früheren thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus Helme tragen“, sagt Andreas König, Sicherheitsexperte im Deutschen Skiverband (DSV). Nach dem Zusammenprall mit Althaus war 2009 eine Skifahrerin gestorben. „Und seit dem Unfall von Michael Schumacher ist der Anteil sicher noch gestiegen“, glaubt König.

Motorradschutz für die Piste

Hövding Bike Helmet: Weil zwei schwedische Designerinnen Fahrradhelme störend fanden, entwickelten sie den Einmal-Airbag für den Kopf. 400 Euro Quelle: PR

Aber gerade im Profisport sollte mehr Schutz möglich sein als die seit Jahren geltende Helmpflicht, findet Günter Hujara. Der 61-jährige Schwarzwälder ist Renndirektor bei der FIS und zugleich der oberste Sicherheitsverantwortliche für die Rennen. „Er hat das Projekt erst möglich gemacht“, sagt Dainese-Stratege Cafaggi über Hujara, mit dem er seit 2011 daran arbeitet, den Motorradschutz auch auf die Piste zu bringen.

„Anfangs haben uns viele für verrückt erklärt“, erinnert sich FIS-Mann Hujara. Trotzdem setzte er das Projekt gegen viele Zweifel durch. Denn während es beim Motorrad reicht, dass sich der Fahrer im Rennen vom Motorrad entfernt, um einen Sturz zu erkennen, fehlt im Schnee ein Sportgerät, das den Airbag auslösen könnte.

Dakine Vario Base+Cover: Paranusseffekt heißt das Phänomen, das große Körper etwa in Müsli-Mischungen immer nach oben treibt. Gleiches bewirken die Luftsäcke, die Skifahrer in Lawinen an der Oberfläche halten sollen. Ab 600 Euro. Quelle: PR

Damit Caffagis Team dennoch Regeln für die Zündung entwickeln konnte, lieferten Rennprofis in knapp 240 Abfahrten Messdaten. 700 Minuten lang protokollierten unter anderem der Italiener Werner Heel oder der deutsche Nachwuchsfahrer Klaus Brandner mit sensorgespickten Protektoren Beschleunigungen, Drehungen oder Schläge.

„Wir können heute die harte Landung nach einem Sprung sauber von einem ebenso starken Sturz unterscheiden“, sagt der Dainese-Manager. „Nur im zweiten Fall wird der Airbag aktiviert.“ Genauso übrigens wie bei Überschlägen à la Herminator: „Sobald die Sensoren melden, dass der Skifahrer quer in der Luft liegt, bläst sich die Weste auf, noch bevor er den Boden berührt.“

Weil solch dramatische Unfälle aber bei Freizeitfahrern die Ausnahme sind, ein kräftiger Ausrutscher dagegen mehrfach am Tag möglich, lässt sich die Profi-Version des D-Air Ski auch nicht einfach auf ein Modell für den Massenmarkt übertragen. „Hier haben wir noch einiges an Tests und Feinabstimmung vor uns“, sagt Cafaggi.

Dafür haben die Entwickler schon eine Idee, wie ihr smarter Luftsack an ganz anderer Stelle zur Schadensbegrenzung beitragen könnte: „Im Grunde könnte das System bei einem Sturz auch die Bindung lösen und so selbst Knie- oder Fußverletzungen vermeiden“, sagt der Dainese-Stratege.

Wie sich das praktisch machen lässt, will er demnächst mit den Bindungsproduzenten besprechen. „Wahrscheinlich halten die mich dann erst mal für verrückt“, sagt Cafaggi, „aber das kenne ich ja.“

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