Gefahr für Wohlstand Jungs im Bildungssystem auf dem Abstellgleis

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Der aktuelle Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands bestätigt Schulz’ Sorge. Weil Fachkräfte fehlen, schreibt das Karlsruher Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, sei das Ziel der Bundesregierung, dass Wirtschaft und Staat von 2010 an jährlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Entwicklung investieren, „nicht mehr erreichbar“. Und es kommt noch schlimmer: Der dringend benötigte männliche Nachwuchs macht sich nicht nur rar. Es sinkt auch die Qualität der Bewerber. Einer Erhebung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zufolge verfügt ein Viertel aller Schulabgänger nicht über ausreichende Kenntnisse im Rechnen und Schreiben. „Vor allem in technischen Berufen fürchten Unternehmen schon bald nicht mehr in ausreichender Zahl geeignete Auszubildende zu finden“, warnt DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben. Jedes achte Unternehmen habe bereits im vergangenen Jahr nicht mehr alle Ausbildungsplätze besetzen können. Die Klagen über die sinkende Qualifikation der Lehrstellenbewerber häufen sich. Nach den Erfahrungen des Leverkusener Kältetechnik-Unternehmers Michael Blank können viele Bewerber nicht einmal einen simplen Dreisatz lösen. „Die Schulabgänger werden immer schwächer.“ Vor allem das Reservoir guter männlicher Kandidaten schrumpfe, kritisiert Jürgen Peschel, Ausbildungsleiter beim Stahlkonzern Arcelor Mittal in Eisenhüttenstadt. Immer häufiger bleibt Unternehmen nichts anderes übrig, als die Schulversager nachzuqualifizieren. IW-Experte Helmut Klein schätzt, dass die Bundesregierung, die Bundesländer, die Bundesagentur für Arbeit und die Ausbildungsbetriebe dafür jährlich rund 3,4 Milliarden Euro aufwenden müssen. „Da lauern gewaltige Effizienz-Potenziale.“ Wie sehr Deutschland bei der Aktivierung und Nutzung des Wissens und der beruflichen Kenntnisse seiner Bürger im internationalen Vergleich zurückgefallen ist, belegt eine aktuelle IW-Studie. Das Land großer Erfinder wie Werner von Siemens und Gottlieb Daimler und aktueller Nobelpreisträger wie Peter Grünberg und Gerhard Ertl (WirtschaftsWoche 43/2007) belegt unter 26 untersuchten Industriestaaten Platz 15 – weit abgehängt von Japan, Australien, der Schweiz, Großbritannien und Schweden. Die unzureichende Förderung des Nachwuchses sei ein Grund für das schlechte Abschneiden, erläutert IW-Expertin Christina Anger. Als rohstoffarmes Land, das vor allem von Technologieexporten lebt, ist Deutschland aber auf hoch qualifizierte Menschen angewiesen. Dies umso mehr, als das Angebot an Arbeitskräften demografisch bedingt abnimmt. Anger: „Um Wohlstandseinbußen zu vermeiden, müssen die zukünftigen Beschäftigten produktiver sein und benötigen deshalb eine höhere Qualifikation.“

Der gerade veröffentlichte Bildungsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris bestätigt das düstere Bild. Deutschland ist danach nicht in der Lage, alle aus Altersgründen frei werdenden Arbeitsplätze für Ingenieure und Pädagogen mit eigenem akademischem Nachwuchs zu besetzen, geschweige denn auf den Trend zu Höherqualifizierung zu reagieren. Im weltweiten Vergleich rutscht Deutschland von Rang 10 auf Rang 22 ab. OECD-Generalsekretär Angel Gurría nennt die Bilanz „besorgniserregend“. Verlierer des Systems sind die Buben. Mädchen haben sich deutlich besser mit dem Bildungsnotstand arrangiert und gelernt, sich allen Widrigkeiten zum Trotz an den Schulen zu behaupten. Entwicklungspsychologe Fthenakis wundert sich, warum niemand ernsthaft dagegen aufbegehrt und lautstark protestiert. Unter den Eltern von Söhnen rumort es jedenfalls bereits gewaltig. Elternvertretungen hören täglich Klagen über schlechtere Noten für Jungs bei gleichen Leistungen, über Lehrerlob nur für Mädchen oder andauernde Schikanen durch weibliches Lehrpersonal, „nur weil es unserem Lukas schwerfällt, die ganze Stunde still auf seinem Stuhl zu sitzen, und er schon einmal zwischendrin aufspringt“, schimpft die Mutter eines Drittklässlers. Die NRW-Elternvereinsvorsitzende Schwarzhoff fordert baldige Gegenmaßnahmen. „Das Verhalten von Mädchen ist an den Schulen zur Norm gemacht worden. Jungen werden zu Außenseitern gestempelt und in unserem Bildungssystem klar benachteiligt.“ Die Beschwerdewelle hat die Politik aufgeschreckt. Im nordrhein-westfälischen Landtag gab es jetzt erstmals eine große Debatte über Jungendiskriminierung an den Schulen. „Wenn zwei Drittel aller Schulabbrecher männlich sind, besteht dringender Handlungsbedarf“, forderte der schulpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion in NRW, Bernhard Recker. „Wir müssen einer Entwicklung gegensteuern, die Jungen tendenziell immer mehr zu Bildungsverlierern macht.“ Die Kultusministerin des Landes, Barbara Sommer (CDU), hat bereits reagiert. Sie will den Anteil männlicher Lehrkräfte an den Grundschulen erhöhen, um die Entwicklung der Jungen fördern zu können. „Wir haben zu lange gedacht, dass die Jungen schlechter als Mädchen sind. Sie sind aber nicht schlechter, sondern anders“, mahnte Sommer kürzlich auf einem Lehrerkongress in Köln. Während Mädchen still in der Bank säßen und den Ausführungen der Lehrerin lauschten, würden Jungen schon einmal zappelig, wenn sie durch den Unterricht unterfordert würden. Sommer: „Da müssen wir was ändern.“

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