Gefahr für Wohlstand Jungs im Bildungssystem auf dem Abstellgleis

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Auch Schleswig-Holstein hat das Problem erkannt und reagiert nun. Landesbildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) hat im neuen Schulgesetz die Schaffung einer geschlechtergerechten Schule zu einem Schwerpunkt erklärt. „Wir dürfen die Jungs nicht zurücklassen.“ Um das zu erreichen, hat sie unter anderem die Entwicklung spezieller Unterrichtsmaterialien für Jungen in Auftrag gegeben. Langsam tut sich was. Im Netzwerk „Neue Wege für Jungs“, entwickeln Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Lehrer mit Unterstützung des Bundesfamilienministeriums Konzepte zur Jungenförderung. „Das Problem, dass Jungen vor allem in der Schule besondere Hilfe brauchen, ist erkannt“, sagt Projektkoordinator Miguel Diaz. Münchner Schulen berufen Lehrer zu Jungenbeauftragten, bringen den Jungen in Anti-Gewalt-Kursen bei, ihre Aggressionen zu zügeln, und erproben in der siebten und achten Klasse in Physik und Fremdsprachen nach Geschlechtern getrennten Unterricht. Die Zeitschrift „Emma“, Speerspitze der Frauenemanzipation, forderte vor 20 Jahren: „Wenn wir wollen, dass es unsere Töchter einmal leichter haben, müssen wir es unseren Söhnen schwerer machen.“ Für Jugendforscher Hurrelmann ist der Appell auf ungute Weise Wirklichkeit geworden. „Lange hat sich alles nur um die Frage gedreht, warum Mädchen im Schulsystem so schlecht abschnitten. Jetzt haben wir spiegelbildlich die gleiche Situation bei den Jungen.“ Der Wissenschaftler plädiert dafür, Jungen stärker zu fördern. „Wir haben geglaubt, die setzten sich alleine durch, sie waren ja das starke Geschlecht. Das war ein Irrtum. Stattdessen werden sie heute in der Schule von cleveren, flexiblen Mädchen geradezu deklassiert.“ Das Ergebnis: Bei der Lesekompetenz hinken die 15-jährigen Buben ihren gleichaltrigen Mitschülerinnen um ein ganzes Schuljahr hinterher. Das ergab die internationale Schulleistungsvergleichsstudie Pisa. Auch beim Lösen von Problemen sind die Mädchen demnach besser, in Naturwissenschaften haben sie fast gleichgezogen. Nur in Mathematik behaupten die Schüler noch einen knappen Vorsprung. Dass die Misere überproportional Jungen aus sozial schwierigen Verhältnissen trifft, macht die Sache nicht besser. Besonders in den neuen Bundesländern haben die Mädchen einen enormen Bildungsvorsprung erzielt. Nirgendwo in Deutschland ist das Übergewicht der Jungen unter den Hauptschülern größer als dort » (siehe Grafik), während sie unter den Abiturienten deutlich unterrepräsentiert sind. Eine aktuelle Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung mit dem Titel „Not am Mann“ zeigt, welche Spirale die Entwicklung in Gang setzt, an deren Ende der weitere Abstieg dieser Regionen steht. Und was sich zwischen Schwerin und Plauen anbahnt, könnte alsbald auf viele ländliche Regionen im Westen überschwappen. Steffen Kröhnert, Leiter der Studie, ist besorgt: „Da sammelt sich jede Menge Zündstoff an.“

Ihre guten Schulabschlüsse und fehlende Arbeitsplätze veranlassen junge Frauen, in Scharen den Osten zu verlassen und ihre Chance woanders zu suchen. Zurück bleibt ein Heer schlecht qualifizierter männlicher Altersgenossen, die keinen Job finden und schwerlich neue Unternehmen zur Ansiedlung anlocken. Der akute Frauenmangel wird die Geburtenrate absehbar weiter sinken lassen – auch das verdüstert die Wirtschaftslage. Weiteres Problem: Die Abwanderung der gut qualifizierten Jugend senkt das Bildungsniveau. Im Osten, so die Studie, ist der Bildungsstand der älteren Generation mittlerweile deutlich höher als der der jüngeren. „Ein schlechter Arbeitsmarkt scheint junge Frauen geradezu anzuspornen, mehr in der Schule zu leisten und so ihre Jobchancen zu verbessern“, analysiert Kröhnert. „Jungen hingegen reagieren nicht mit messbaren Bildungsanstrengungen.“ Zu viele der Jungen unterliegen laut Studie dem Irrglauben, sie würden schon eine Arbeit in einem traditionellen Männerberuf in der Fabrik oder auf dem Bau finden. Oft bestärken die Eltern sie noch in dieser Sichtweise. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Arbeitsmarktforscher sagen voraus, dass im Jahr 2020 nur noch zehn Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sein werden. Hält der gegenwärtige Trend an, haben dann aber 35 Prozent der Schüler eines Jahrgangs nicht mehr als den Hauptschulabschluss in der Tasche. Für die boomenden anspruchsvollen Wissens- und Dienstleistungsjobs sind sie wenig geeignet. Erst recht sind Menschen ganz ohne Schul- und Berufsabschluss von Arbeitslosigkeit bedroht. Für diese Gruppe hat sich die Arbeitslosenquote laut OECD-Bildungsbericht zwischen 1991 und 2005 von 7,4 auf 20,2 Prozent fast verdreifacht. „Das Resultat sind jede Menge Hartz-IV-Empfänger“, befürchtet die DIHK-Bildungsexpertin Berit Heintz. Jungs auf der Verliererstraße: Wer brachte sie dahin? Für den Hamburger Gesamtschullehrer und Universitätsdozenten Frank Beuster, Autor des Buchs „Die Jungenkatastrophe“, überfordert das deutsche Bildungssystem das vermeintlich stärkere Geschlecht schlicht. Nach seinen Beobachtungen gehen die oft ausschließlich aus Lehrerinnen bestehenden Grundschulen besonders auf das diszipliniertere Wesen der Mädchen ein und passen den Unterricht daran an. Da Jungen in den ersten Schuljahren noch viel verspielter und unkonzentrierter sind, so Beusters These, werden sie von den Mädchen im Unterricht nach und nach abgehängt. „Die Schulen schaffen es nicht, die Jungen für das Lernen zu gewinnen. Ihre permanenten Misserfolge und Frustrationen kompensieren sie mit Stören und Clownereien, und dafür werden sie noch einmal bestraft.“

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