Gefahr für Wohlstand Jungs im Bildungssystem auf dem Abstellgleis

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Sind die Jungen also ein Opfer der Verweiblichung der Schule, die Mädchenverhalten zum Maßstab macht? Eine Untersuchung der Erziehungswissenschaftlerin Eva Schumacher von der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd stützt Beusters Kritik. Mehr als 90 Prozent der befragten Lehrkräfte gaben an, dass gute Umgangsformen und ein positives Sozialverhalten, die sie ganz überwiegend bei den Schülerinnen sehen, nicht bloß in die Kopf-, sondern auch positiv in die Fachnoten einfließen. So kommt zustande, dass Jungen bei gleicher Leistung schlechtere Noten erhalten. Mädchen mit ihrer eher vermittelnden und auf Kompromisse ausgerichteten Art fällt es leichter, sich dem Schulsystem anzupassen, darin sind sich die Experten einig. Auch bringen sie mehr Disziplin und Ehrgeiz mit, sagt Susanne Thurn, Leiterin der Laborschule an der Universität Bielefeld, Deutschlands einziger Versuchsschule. „Mädchen haben Freude an der Leistung und sind stolz auf gute Noten.“ Die Haltung der Jungen ist ambivalenter, stimmt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde zu. „Einser-Schüler gelten unter ihren Kumpels schnell als Streber. In dem Zwiespalt zwischen der Anerkennung als guter Schüler oder ein richtiger Junge zu sein, entscheiden sich viele für die Männlichkeit und gegen die Schule.“ Schwarzhoff vom NRW-Elternverein wirft den Pädagogen auch einen „Tunnel- » blick nur auf die Mädchen“ vor. Sie würden bei jeder Gelegenheit gelobt, Jungen dagegen sofort getadelt, wenn sie nur mal ein bisschen auf ihrem Stuhl rumrutschten. „Sie gewinnen dadurch den Eindruck, dass Lernen nur etwas für Mädchen ist.“ Budde weiß aus Interviews mit Lehrern und aus dem Unterrichtsalltag, dass sich bei vielen Pädagogen, weiblichen wie männlichen, Stereotypen festgesetzt haben, die sie mit zweierlei Maß messen lassen. Budde: „Das geschieht unbewusst.“ Klassen, in denen Jungen in der Mehrzahl sind, gelten als anstrengend, wenig engagiert und leistungsschwach. Die Mädchen erleben die Lehrer(innen) als „still und zurückhaltend“ und führen das aufs dominante Auftreten der Jungen zurück. Damit wächst laut Budde der Drang unter den Lehrkräften, „den Jungen mal zu zeigen, wer der Chef ist“. Umgekehrt gelten mädchendominierte Klassen unter den Pädagogen als ausgesprochen leistungsstark, aber auch als laut und faul. Die Schuld schieben sie allerdings den Jungen zu. Ungleich werten sie auch verbale Attacken während des Unterrichts aufs andere Geschlecht. Mädchen heimsen dafür meist ein Lob ein, weil sie gelernt hätten, sich zu wehren. „Jungen dagegen“, so Budde, „werden in die Schranken gewiesen.“

Ein anderer Kritikpunkt betrifft die Auswahl der Unterrichtsinhalte. Jungenthemen wie Ritter, Burgen oder auch einmal ein Zeitungsartikel über Fußball kämen so gut wie nicht vor, bemängelt Ingrid Joos-Beßler, Rektorin an einer großen Grundschule im Landkreis Fulda. Der Medienexperte und Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer, sieht zudem einen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Schulleistung. Nach der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung Iglu schauen 11,5 Prozent der Jungen, aber nur 3,5 Prozent der Mädchen täglich mehr als fünf Stunden fern, die dafür deutlich häufiger lesen. Beide Geschlechter verbringen zwar ähnlich viel Zeit vor dem Computer. Aber während Mädchen sich gegenseitig schreiben und den Rechner und das Internet als Lernquelle nutzen, begeistern sich Jungen vor allem für Videospiele. Das hat Folgen. Nach einer KFN-Befragung von mehr als 23.000 Schülern kommt Pfeiffer zu dem Schluss: „Je brutaler die Computerspiele sind und je häufiger sie gespielt werden, desto schlechter sind die Noten." Was aber tun? Kann nur eine spezielle Förderung die Jungen vorm Absturz bewahren? Oder sollten Fächer wie Mathematik, Deutsch und Englisch in den Klassen sieben bis neun gar wieder nach Geschlechtern getrennt unterrichtet werden, wie das der Elternverein NRW vorschlägt? „In dieser Altersphase driftet die Entwicklung von Jungen und Mädchen am weitesten auseinander. Getrenntes Lernen erleichtert es beiden Geschlechtern, ihre Stärken auszubilden und zu sich selbst zu finden“, begründet Schwarzhoff ihre Forderung nach einer zumindest zeitweisen Aufhebung der Koedukation. Die meisten Experten befürworten andere Lösungen. Sie warnen wie der Hamburger Pädagoge Budde davor, die Geschlechterdifferenzen zu dramatisieren. „Das verfestigt nur alte Rollenklischees.“ Vielmehr komme es darauf an, dass sich die Lehrer die Unterschiede bewusst machten und schon in der Ausbildung lernten, mit differenzierten Unterrichtsformen darauf einzugehen. „Im individuellen Ernstnehmen liegt wahrscheinlich die größte Perspektive für Jungenförderung.“ Unterstützung für diese Position findet er bei Andreas Schleicher, dem Erfinder des Pisa-Tests bei der OECD. „Die Herausforderung ist, Jungen und Mädchen individuell zu fördern, zu erkennen, dass gewöhnliche Schüler außergewöhnliche Fähigkeiten haben“. Das Problem ist nur: In der Ausbildung der Lehrer an den Universitäten und in der praktischen Schulpolitik findet sich von diesen Erkenntnissen bislang kaum etwas wieder. So ist zu befürchten, dass die Jungen und das deutsche Bildungssystem weiter ins Hintertreffen geraten.

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