Gefahr für Wohlstand Jungs im Bildungssystem auf dem Abstellgleis

Schlechte Noten, ungerechte Lehrer: Warum die Benachteiligung der Jungen in den Schulen unseren Wohlstand gefährdet – und wie die Jungen und das Bildungssystem zu neuer Stärke finden können.

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Jungen gelten unter Bildungsforschern als zunehmend benachteiligt vom Schulsystem, dpa

Seit Dirk beim Tollen auf dem Schulhof an einer Grundschule in Lohmar bei Köln mit einem Mitschüler zusammengeprallt ist und der sich dabei ein paar Schürfwunden zugezogen hat, ist er bei seiner Lehrerin unten durch. Fällt dem aufgeweckten Siebenjährigen, der die zweite Klasse besucht, mal das Mäppchen runter oder platzt er mit einer Frage einfach dazwischen, muss er in der Ecke stehen, Strafarbeiten schreiben oder wird zum Rektor geschickt. Keine Unterrichtsstunde vergeht, an der die Lehrerin nicht an dem Jungen herumkrittelt und ihn vor der Klasse bloßstellt. Obwohl Dirk, so die Eltern, sich anstrengt, hagelt es schlechte Noten für ihn. Die Eltern haben Angst, sich gegen die alltägliche Schikane ihres Sohnes zu wehren. Sie fürchten, dass die Schule dann ihre Drohung, Dirk auf eine Sonderschule für schwer erziehbare Kinder zu schicken, wahr macht. Solche Beschwerden verzweifelter Väter und Mütter häufen sich, berichtet Regine Schwarzhoff, Vorsitzende des Elternvereins Nordrhein-Westfalen. Fast immer sind Jungen betroffen, und fast immer sind Lehrerinnen in den Konflikt verstrickt. Schwarzhoff weiß von Schulen, wo Eltern regelrecht darum betteln, dass ihre Söhne von einem der wenigen Lehrer unterrichtet werden. „Das hat es früher in dieser Dimension nicht gegeben.“ Werden Jungen benachteiligt? Für den Bozener Entwicklungspsychologen Wassilios Fthenakis, einen genauen Kenner des deutschen Bildungssystems, ist das keine Frage mehr. „Das ist empirisch nachgewiesen.“ Aktuelle Zahlen untermauern die Krise der Jungs. Sie brechen weitaus häufiger die Schule ab, bleiben öfter sitzen und schaffen seltener das Abitur. Im Durchschnitt sind sie eine ganze Schulnote schlechter als ihre Mitschülerinnen. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, einen der bekanntesten Jugendforscher Deutschlands, ist vor allem über die Dynamik besorgt, mit der das einstige starke Geschlecht an der Schule zurückfällt. „Der Anteil der Mädchen an den Abiturienten wächst im Moment bei jedem Jahrgang um einen Prozentpunkt.“ Im vergangenen Schuljahr erlangten 29,3 Prozent der Mädchen die allgemeine Hochschulreife gegenüber 25,9 Prozent 1992. Unter den Jungen sank der Anteil im gleichen Zeitraum von 22,2 auf 21,7 Prozent.

Beim Berufseinstieg setzt sich die Misere fort. Jungen finden seltener eine Ausbildungsstelle und fallen bei Prüfungen öfter durch. Die logische Konsequenz: Die Arbeitslosenquote ist unter den männlichen 15- bis 25-Jährigen mit 13 Prozent zwei Prozentpunkte höher als bei gleichaltrigen Frauen. Wird der Entwicklung nicht schnell gegengesteuert, steht mehr auf dem Spiel als die Zukunft vieler junger Männer: Das schrumpfende Reservoir an schlauen Jungs kommt auch die Volkswirtschaft teuer zu stehen, belastet Sozial- und Steuerkassen und gefährdet damit unseren Wohlstand. „Wir können uns die massenhafte Vergeudung menschlicher Talente nicht länger leisten“, warnt der Bildungsökonom Ludger Wößmann, Professor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und Spitzenforscher am renommierten ifo Institut für Wirtschaftsforschung.

Wößmann hat ausgerechnet, dass die schlechten Schulleistungen, zu denen Jungen überproportional beitragen, Deutschland jährlich bis zu einen halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum kosten. Bezogen auf den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in den vergangenen zehn Jahren von durchschnittlich 1,3 Prozentpunkten, ließe sich das volkswirtschaftliche Wachstum um 40 Prozent erhöhen, wenn Deutschlands Schulen internationales Spitzenniveau erreichen würden. „Dann hätten wir deutlich weniger Arbeitslose“, sagt Wößmann. Schon jetzt beklagen Unternehmen lautstark einen Mangel an Fachkräften. „Der Markt ist leer gefegt“, sagt Manfred Wittenstein, der Chef des gleichnamigen Herstellers von Antriebstechnik aus Igersheim bei Würzburg und Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA). Nach einer aktuellen Umfrage des Hamburger Marktforschungsinstituts Psephos finden 59 Prozent aller Unternehmen derzeit keine geeigneten Bewerber. Die Folge: Weil Arbeit und Aufträge liegen bleiben, büßen zwölf Prozent dieser Unternehmen bis zu fünf Prozent Jahresumsatz ein, weitere zwölf Prozent bis zu zehn und jedes 20. Unternehmen sogar mehr als zehn Prozent. Besonders eklatant ist der Mangel an Ingenieuren, in den technisch-gewerblichen Berufen und im Handwerk – also überall dort, wo Männer bis heute klar dominieren. Alle Initiativen und Aktionen, Frauen verstärkt für solche Positionen zu gewinnen, liefen bislang ins Leere. Mädchen haben nach wie vor keine Lust, Maurer, Mechatroniker, Feinmechaniker oder Bauingenieur zu werden – Jobs, die zum Teil mit schwerer körperlicher Arbeit verbunden sind. Die Zahl der jungen Frauen, die nach dem Abitur ein Ingenieurstudium aufnehmen, ist sogar wieder rückläufig. Seit 2001 ist der Anteil der Frauen an den berufstätigen Ingenieuren leicht von 5,9 auf 5,8 Prozent gefallen, sehr zur Enttäuschung von Wittenstein. „Wir treten da auf der Stelle.“ Mindestens 9000 Ingenieure und Tausende Facharbeiter fehlen allein dem boomenden deutschen Maschinenbau. Bundesweit blieben nach einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im vergangenen Jahr mangels geeigneter Bewerber 48.000 Ingenieurstellen unbesetzt. Die Technikverweigerung der Jugend erweist sich zunehmend als Wachstums- und Jobbremse. Der Maschinenbau könnte in diesem Jahr rund 10.000 Stellen zusätzlich schaffen, wenn es mehr Fachkräfte gebe. Der deutschen Volkswirtschaft, so hat das IW ausgerechnet, entgehen auf diese Weise jährlich mindestens 3,5 Milliarden Euro an Wertschöpfung. ThyssenKrupp-Chef Ekkehard Schulz: „Nur wenn sich genügend Jugendliche für solche Berufe entscheiden, hat Deutschland die Chance, Spitzenprodukte hervorzubringen, die unseren Wohlstand sichern.“

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