Genom entschlüsselt Was die Gene der Orang-Utans verraten

Das Orang-Utan-Erbgut ist entziffert. Forscher zufolge ist es zu 97 Prozent mit dem des Menschen identisch. Zwar sagt es wenig über das Leben der heutigen Menschenaffen aus, dennoch ist es für Evolutionsforscher ein Schatz.

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Orang-Utan-Mutter mit Jungem. Das Erbgut des Menschenaffen ist entschlüsselt Quelle: handelsblatt.com

Biologisch betrachtet ist der Mensch nichts anderes als ein großer Affe – zu der Familie gehören Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans. Einst hatten all diese Hominiden einen gemeinsamen Vorfahren. Heute, knapp 16 Millionen Jahre später, stehen Evolutionsforscher vor vielen Rätseln. Wie konnten sich aus diesem Ur-Affen so unterschiedliche Arten entwickeln? Warum bildete der Mensch ein so leistungsfähiges Gehirn aus, während Gorillas zu kräftigen aber im Vergleich weniger intelligenten Waldbewohnern wurden? Wie entwickelte sich das erstaunliche Sozialverhalten der Bonobos und wie konnten die friedliebenden Orang-Utans über Jahrmillionen nahezu unverändert fortbestehen, obwohl sie mit durchschnittlich nur drei Nachkommen im Leben eigentlich ständig am Abgrund der Evolution entlang schlittern?

Eines gleich vorweg: Das entzifferte Orang-Utan-Genom, das Forscher diese Woche im Magazin Nature präsentieren, kann diese grundsätzlichen Fragen auch nicht beantworten. "Zwischen dem Genom eines Primaten und den Merkmalen, die heute lebende Menschen und Affen tragen, liegt ein weiter Weg. Da passt einmal die ganze Biologie hinein. Und auf diesem Weg ist das meiste heute noch unverstanden", erläutert Wolfgang Enard vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig die Ergebnisse des internationalen Forscherteams unter der Leitung von Devin Locke vom Genom-Zentrum der Universität Washington.

Doch es lohnt ein Blick ins Detail der Orang-Utan-Genetik – denn das Erbgut dieser bedrohten Affen, die heute außer in Zoos nur noch auf den Inseln Sumatra und Borneo leben, ist ein wichtiges Puzzleteil, um die Evolution des Menschen zu verstehen.

Inoffiziell war das komplette Orang-Utan-Erbgut bereits seit Juli 2007 bekannt. Online stand es Genetikern zur Verfügung, die es mit anderen Primaten-Genomen von Mensch, Schimpanse und Rhesus-Makake verglichen. Auch das Gorilla-Genom, das in dieser Arbeit nicht einbezogen wurde, ist übrigens bereits entziffert. Die Veröffentlichung in einem Fachblatt steht noch aus.

In Nature präsentieren die Forscher nun also eine erste grobe Version des Genoms eines Sumatra-Orang-Utan-Weibchens. Das Erbgut haben sie dazu nach klassischen Methoden sequenziert und in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt. Darüber hinaus analysierten sie einzelne Genabschnitte von zehn weiteren Orang-Utans, fünf vom Borneo-Typ und fünf aus Sumatra. Dazu verwendeten sie moderne Analyse-Methoden, mit denen kurze Genabschnitte schneller und günstiger ausgewertet werden können.

Das entscheidende Ergebnis: Das Erbgut des Orang-Utans ist träger, zäher und stabiler als das von Mensch, Schimpanse oder Rhesus-Affe. Im Laufe der vergangenen 16 Millionen Jahre haben sich die Affen mit dem rötlichen Fell, die sich inzwischen als einzige unter den großen Affen an ein Leben in Baumwipfeln angepasst haben, in ihrer Genomstruktur weniger verändert als die anderen Primaten. "Weniger Umordnungen von Genabschnitten, weniger Vervielfältigungen desselben Abschnitts und weniger Austausch innerhalb von Gengruppen – all das zeugt von einem relativ stabilen Erbgut", erklärt der Leipziger Genetiker Wolfgang Enard. Auch kleine Erbgutabschnitte, die sich in einem Lebewesen ganz von allein kopieren können – sogenannte Alus – kommen bei Orang-Utans offenbar seltener vor.

Mit dem neuen Genom kann man auch die Evolution von einzelnen Genen in Primaten und anderen Säugetieren miteinander vergleichen. So haben sich in der Evolution der Primaten besonders stark Gene verändert, die das Sehen steuern oder den Fettstoffwechsel beeinflussen. Zu diesem Schluss kam Carolin Kosiol von der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Mitautorin der Nature-Studie. Sie hatte 14.000 Gene von Menschen untersucht, die auch bei Orang-Utans, Schimpansen und Rhesus-Makaken vorkommen.

Lässt sich damit nun erkennen, ob Bonobos anders gucken als Menschen oder warum Orang-Utans weniger Energie verbrauchen als Schimpansen? Nein, sagt der Molekularbiologe Enard. "Aber das Orang-Utan-Genom ist eine ganz wichtige Quelle, um solche Fragen künftig beantworten zu können. Dazu brauchen wir allerdings nicht nur DNA-Schnipsel, sondern wir müssen auch die Physiologie, die Lebensweise und die Ökologie der Primaten gut kennen." Die Sisyphos-Arbeit der Genetiker ersetzt also nicht die Feldforschung von Zoologen.

Wichtig an der Arbeit des Teams um Devin Locke ist auch die neue Technik, die hier angewandt wurde. "Damit werden wir sehr viel schneller und günstiger sehr viele Genabschnitte von allen möglichen Säugetieren analysieren können", sagt Enard.

Die neuen genetischen Analysen legen außerdem nahe, dass sich die beiden heutigen Orang-Utan-Typen erst vor rund 400.000 Jahren und damit deutlich später voneinander trennten als bislang vermutet.

Eine weitere Überraschung: Obwohl der Sumatra-Orang-Utan (Pongo abelii) mit höchstens noch 7500 Tieren als vom Aussterben bedroht gilt, finden sich innerhalb der Population stärkere Unterschiede im Erbgut als bei der auf Borneo heimischen Unterart. Pongo pygmaeus gilt bisher nur als extrem gefährdet, da noch bis zu 55.000 Exemplare auf Borneo leben.

Die Ergebnisse der Genetiker könnte nun Einfluss auf diese Einschätzung haben. Denn bei einem kleinen Genpool mit weniger Varianz im Erbmaterial steigt auch die Wahrscheinlichkeit für Erbkrankheiten und andere negative Mutationen. Damit sich eine bedrohte Art erholen kann, braucht es ein Mindestmaß an genetischen Varianten. "Die größere Diversität bei Sumatra-Orang-Utans im Vergleich zur Orang-Utan-Art auf Borneo könnte sich als sehr wichtig für Maßnahmen zur Arterhaltung erweisen. Wir müssen tun, was wir können, um die genetische Vielfalt beider Arten zu erhalten", sagt die Wiener Forscherin Kosiol.

Die Orang-Utans sind – gerechnet in erdgeschichtlichen Zeiträumen – erst seit sehr kurzer Zeit bedroht, und das vor allem durch den Menschen. Noch in den siebziger Jahren war der Torfmoorwald auf Borneo und Sumatra größtenteils erhalten – einst waren die Menschenaffen auch auf Java, in Vietnam und Südchina verbreitet.

Im Moment verändert sich die Umwelt der roten Menschenaffen rasant. Sind sie mit ihrem stabilen Erbgut in der Lage, sich daran anzupassen? Während Mensch, Schimpanse und andere Primaten sich rasch gewandelt haben, scheint der Orang-Utan fast ein Fossil seiner selbst zu sein. Ob ihm das nun zum Verhängnis wird? Oder ob der Waldmensch Indonesiens am Ende eine geheime Überlebensstrategie hat, die seine Gene bisher nicht verraten? Die Zukunft wird es zeigen.

Hintergrund: Orang-Utans

Als Waldmenschen bezeichneten die Malaien die großen Menschenaffen mit dem roten Fell. In ihrer Sprache heißen sie "Orang Utan". Heute unterscheidet man zwei Arten - die eine lebt auf der Insel Borneo, die andere auf Sumatra. Da sie sich nur aufgrund der räumlichen Trennung nicht untereinander paaren können, - in Gefangenschaft können Sumatra- und Borneo-Orang-Utan durchaus Nachwuchs haben - ist die Abgrenzung in zwei Arten umstritten.

Pongo abelii lebt - außer in Zoos und Wildparks - auf der indonesischen Insel Sumatra. Umweltschützer schätzen ihre Zahl auf 7 500 Exemplare. Auf Borneo haben bis zu 55.000 Tiere der Art Pongo pygmaeus überlebt. Grundlage für diese Erhebung war eine Studie aus dem Jahr 2004. Borneo gehört zum Teil zu Indonesien und zu Malaysia - im Norden der Insel liegt der Staat Brunei.

Orang-Utans verbringen den größten Teil ihres Lebens in Baumwipfeln, wo sie hauptsächlich Früchte, aber auch Insekten und andere kleine Tiere fressen. Anders als Schimpansen leben diese Menschenaffen in lockereren sozialen Strukturen und sind nicht selten allein auf Nahrungssuche. Die Reviere der Männchen überschneiden sich mit denen mehrerer Weibchen. Orang-Utans sind vor allem durch die Zerstörung ihres Lebensraumes bedroht. Auf Sumatra hat der Mensch bereits 95 Prozent der ursprünglichen Torfmoorwälder zerstört - auf Borneo etwa die Hälfte.

Nach bisherigem Forschungsstand entwickelte sich der moderne Mensch Homo sapiens über Umwege aus einem gemeinsamen Vorfahren mit den Bonobos und Schimpansen. Die Wege des Menschen und dieser beiden heute noch lebenden Primatenarten kreuzten sich zuletzt vor etwa 4,5 bis 6 Millionen Jahren.

Vor 12 bis 16 Millionen Jahren dürfte auf der Erde ein Affe gelebt haben, aus dem dann in einer Linie die Orang-Utans hervorgingen und aus der anderen Gorilla, Mensch, Bonobo und Schimpanse.

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