Arktis Der erstaunliche Wirtschaftsboom im Norden - und warum er uns alle betrifft

Datenzentren, Gas-Bonanza, grüne Energie: Die Region um den Nordpol boomt. Droht eine Ökokatastrophe?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Selbst der Winter auf Grönland ist nicht mehr das, was er einmal war. In Sisimiut, einem Hafenort am Polarkreis, schmolz der Schnee dieses Jahr so schnell, dass beinahe das wichtigste Skirennen des Landes abgesagt werden musste. Eilig verlegten die Veranstalter die Strecke ins Bergland, und sogar dort mussten sie den Schnee erst herbeischaufeln.

Mehr als 1000 Kilometer nördlich, im grönländischen Fischerdorf Qaanaaq, müssen nun die Inuit sogar ihre Schlittenhunde erschießen. Das Eis auf dem Meer ist so dünn geworden, dass die Eisjäger nicht mehr fischen können. Weniger Fisch aber bedeutet weniger Nahrung für Mensch und Schlittenhund. Ein tödlicher Kreislauf.

Viel weiter östlich, in Sibirien, legt das Tauwetter dagegen erstaunliche Schätze frei: meterlange Mammutstoßzähne, die Zehntausende Jahre im Frost verborgen blieben. Ein kostbarer Fund, weil Sammler für einen Hauer mitunter 15 000 Euro zahlen.

Angestoßen vom Klimawandel, verändert sich die Region rund um den Nordpol im Zeitraffer. Untrennbar mit der schwindenden Lebensgrundlage von Mensch und Schlittenhund ist aber auch eine andere Geschichte verbunden. Sie handelt von einem atemberaubenden Aufstieg des Nordens.

Einst verschlafene Außenposten wie Iqaluit in Nordkanada oder Novy Urengoy in Russland verwandeln sich in Boom-Towns. In russischen Eismeerstädten steigen die Immobilienpreise um 50 Prozent pro Jahr. Fachkräfte wiederum können im Norden mit 180 000 Dollar Jahresgehalt rechnen.

Rohstoffe für 150 Jahre

"Hier herrscht überall Aufbruchstimmung", sagt der deutsche Unternehmer Trygve Höppner in Hammerfest, "wie einst beim Goldrausch am Klondike River."

Menschen wie er kommen in den Norden, um einen der vielen Schätze zu heben: Rohstoffe in schier unbeschreiblichen Mengen. Allein unter Grönlands Eispanzer stecken genug Seltene Erden, um 150 Jahre lang Handys, Windräder und Elektromotoren zu bauen.

Und rund um den Nordpol vermuten amerikanische Geologen 30 Prozent aller unentdeckten Gasvorräte.

Der Aufstieg des Nordens ist aber nicht allein fossilen Brennstoffen zu verdanken. Unternehmen sehen hier auch riesige Potenziale für grüne Energie, die später in Form von Sprit, Flüssiggas oder Strom nach Europa fließen soll. Erste Firmen versenken daher Gezeitenkraftwerke in den frostigen Fluten Alaskas, züchten Seegräser vor den Küsten Norwegens und setzen Windräder den eisigen Winden Lapplands aus.

Auch Facebook ist schon daSogar von einem IT-Boom rund um den Nordpol ist die Rede: Internet-Konzerne wie Google und Facebook bauen in verschneiten Nadelwäldern Rechenzentren so groß wie zig aneinandergereihte Fußballfelder, weil sie sich hier, im Norden Schwedens, billiger kühlen lassen als in San Francisco. Erste Visionäre glauben daher an ein entstehendes Silicon Valley im ewigen Eis.

"Die Arktis wird zu einem Motor der Weltwirtschaft", prophezeit der Geograf Laurence Smith von der University of California in Los Angeles. Sogar die Zukunft unserer Zivilisation liege im Norden, dank seiner Rohstoffe und boomenden Städte.

Doch welche Folgen hat es, wenn die Welt einen ihrer wertvollsten Naturräume wirtschaftlich erschließt?

Umweltschützer fürchten die Entwicklung. Denn die Arktis ist nicht nur eine Wüste aus Eis. Sie versorgt die Inuit mit Walfleisch und die Welt mit Fisch; sie beeinflusst die Luftströme und damit das Klima auf der Nordhalbkugel des Planeten; und sie gibt Lebewesen ein Quartier, die für das Leben in den Weltmeeren eine Schlüsselrolle spielen - das mikroskopisch kleine Phytoplankton zum Beispiel.

Wildnis als Industriepark?Umso größer ist die Sorge, die letzte große Wildnis der Erde verkomme zu einem Industriepark. Weltweit demonstrieren Menschen deshalb gegen die Ölförderung im Nordpolarmeer.

Sie erwarten eine noch schlimmere Katastrophe, als sie die Havarie der Bohrplattform Deepwater Horizon auslöste, die den Golf von Mexiko verseuchte. "Eis, Dunkelheit und die riesigen Entfernungen machen Ölbohrungen in der Arktis viel zu riskant", findet Truls Gulowsen, der Chef von Greenpeace Norwegen.

Doch das heißt nicht, dass sich die Region nicht auch anders nutzen ließe: "Wir haben im Norden ein Riesenpotenzial für Energie aus Wind, Biomasse und Wellen - das sollten wir nutzen", sagt Gulowsen. Lässt sich die Arktis nachhaltig erschließen?

Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, reisen wir bis zu 2500 Kilometer weiter nach Norden, in eine Region, in der Eisbären hausen und die Sonne im Winter acht Wochen lang nicht aufgehen will.

1. Grüner Bergbau:

Ilomantsi, Finnland / Baffin Island, Kanada.Wild sind die Wälder nahe dem finnischen Städtchen Ilomantsi. Bären und Wölfe streifen hier durchs Geäst, Straßen sind rar, und im Winter steht das Thermometer im Schnitt bei zwölf Grad Celsius unter null. Mitten in diesem Biosphärenreservat schürft das Bergbauunternehmen Endomines nach Gold. Normalerweise roden Unternehmen dafür erst riesige Waldflächen, reißen dann den Boden auf und leiten mit Chemikalien verseuchtes Grubenwasser später in die Tümpel der Umgebung. Was bleibt, ist eine Wüste aus Müll, Sand und Gift.

Nicht so in Ilomantsi. Die Betreiber der Pamplona-Mine graben Schächte unter den Wald - damit sie nicht so viele Bäume fällen müssen. Beim Schürfen verzichten die Finnen auf Zyanid und andere giftige Chemikalien, stattdessen lösen sie das Gold mit Maschinen aus dem Gestein. Das Grubenwasser saugen sie ab, säubern es in Klärseen und verwenden es erneut. Kann eine Goldmine ökologisch korrekt sein?

Finnland wettet darauf - mit 60 Millionen Euro. So viel investieren Regierung und Industrie in ihr Green-Mining-Programm. Es soll neue Techniken für einen Bergbau hervorbringen, der nicht mehr stinkt, qualmt und Gift absondert. "Bis zum Ende des Jahrzehnts", sagt Projektleiter Kari Keskinen, "sind wir Vorreiter einer verantwortungsvollen Bergbauindustrie."

Die Finnen müssen lernen, dass sie den Norden nicht mit dem Schaufelradbagger erobern können. Schon weil der Protest von Umweltschützern zu groß wäre. Sie fordern, dass die Rohstoffriesen im Arktis-Boden nur mit OP-Besteck operieren - minimalinvasiv, mit Aussicht auf vollständige Heilung.

Elektrotrucks im hohen NordenAuch die Kanadier erproben grüne Technik. Der multinationale Rohstoffkonzern Rio Tinto etwa stellt Windräder neben seiner Diamantenmine Diavik auf, zu der Arbeiter im Sommer nur per Flugzeug gelangen, weil zu der Zeit die Eisstraßen zu unüberwindbaren Schlammrinnen werden. Die Windräder ersetzen vier Millionen Liter Diesel pro Jahr - zehn Prozent des Spritdursts der Mine. Immerhin ein Anfang.

Im schwedischen Pajala, wo der Rohstoffkonzern Northland Resources Eisenerz fördert, soll bald die Zufahrtsstraße mit Stromdrähten überspannt werden. Elektrotrucks bringen das Erz dann mit Grünstrom zum Hafen. Zwölf Kilometer soll die erste Strecke messen, doch schon in einigen Jahren könnte sie zehn Mal so lang sein.

Viele der grünen Techniken werden aber erst erprobt, manche sind wenig mehr als eine Idee. Soll das empfindliche arktische Ökosystem intakt bleiben, muss weit mehr geschehen.

Es gibt außerdem Rohstoffe nördlich des Polarkreises, die blieben besser im Boden. Aber wenn Rohstoffmultis sie dennoch fördern - wie verhindern sie die ultimative Umweltkatastrophe?

2. Riskante Öl- und Gasförderung:

Hammerfest, Norwegen / Barentssee, RusslandIm Oktober 2012 herrscht Alarm auf der Nordsee: Auf Njord A, einer Bohrplattform von Norwegens Energiemulti Statoil, ist Öl ausgelaufen. Rettungsschiffe eilen hinaus, lassen schwimmende Barrieren ins Meer ab, um den Schmutzteppich einzudämmen. Die Ölpest bleibt aus.

Diesmal ist all das nur eine Übung: Die Retter sind echt, aber das Öl nicht, sie jagen 15 000 Liter schwimmendes Popcorn.

Die Norwegische Vereinigung für saubere Meere, ein Verband der Ölindustrie, bereitet sich mit der Übung auf den Ernstfall vor. Die Norweger gehen solche Szenarien immer öfter durch. Denn ihre Plattformen sollen ein ganzes Meer erobern: die Barentssee, ein Randmeer des Arktischen Ozeans, viermal so groß wie Deutschland. Hier lagern Gas und Öl im Wert von Hunderten Milliarden Euro.

Das erste Gasfeld, Snohvit vor der Küste von Hammerfest, ist bereits angezapft. Nebenan installiert der Ölkonzern Eni bald seine Ölplattform Goliath. Experten wie Lars Eirik Nicolaisen, Partner der Energieberatung Rystad Energy, sind sich sicher: "Die Barentssee steht vor einem Ressourcenboom."

Doch seit 2012 Shells Bohrplattform Kulluk vor der Küste Alaskas havarierte, stellt sich die Frage, ob das Ölabenteuer im Eis nicht viel zu riskant ist. Es ist nicht die Tiefe des Meeres, die die Öl- und Gasförderung in der Arktis so schwierig macht. Es sind die Distanzen, die Kälte und die Dunkelheit. Acht Wochen im Jahr herrscht Polarnacht, und rasch sinkt das Thermometer im Winter auf minus 30 Grad Celsius.

Rettung im Eissturm unmöglich»Was erst ein Eissturm anrichtet, zeigte sich vor sieben Jahren auf Statoils Gasinsel Melkøya in Hammerfest: Hagel und Regen gefroren auf dem Boden, das Eiland musste evakuiert werden. Hernach überzog eine Eisschicht Wege, Rohre und Schilder. Autos waren mit ihren Rädern am Boden festgefroren.

Die Insel Melkoya ist mit dem Festland verbunden - die geplanten Plattformen sind es nicht. Eines der größten Gasvorkommen der Welt etwa, das Shtokman-Feld in Russlands Barentssee, liegt 600 Kilometer vor der Küste. Der russische Energiekonzern Gazprom und der französische Partner Total wollen es anzapfen. "Mit Helikoptern wäre die Plattform nicht zu erreichen", sagt Energieexperte Nicolaisen. "Wenn da oben etwas passiert, kann es Tage dauern, bis Hilfe kommt."

Schlimmer noch: Im Winter könnte in der östlichen Barentssee Meereis sämtliche Notreparaturen blockieren. "Reißt am Meeresgrund ein Leck auf", sagt Greenpeace-Chef Gulowsen, "dann könnte es bis zum nächsten Sommer dauern, bis Einsatzkräfte überhaupt herankommen."

Das wissen auch die Energiekonzerne. Aber sie glauben, dass sich die Risiken beherrschen lassen. Schon gibt es Pläne für ein Netz aus Meeresplattformen, an denen Helikopter tanken, um die gesamte Barentssee zu überfliegen. Aber ist die Industrie auch für eine Havarie gewappnet?

An der Plattform Goliath will Eni mit High Tech eine Ölpest verhindern: Sensoren und Tauchroboter sollen die Bohrstellen am Meeresgrund überwachen. Ein Rettungsschiff wird permanent vor Ort sein, ausgestattet mit Infrarotsensoren, die auch in der Finsternis Öllachen aufspüren. Auch lokale Fischer helfen. Sie trainieren mit ihren Booten, Barrieren um Ölteppiche zu winden.

Würde aber ein Öltanker in der Nordostpassage kentern, dann könnten Helfer zwischen den Eisschollen nichts mehr retten. "Es gibt keine Technik, um Öl im Eis zu entfernen", sagt Greenpeace-Mann Gulowsen. "Und in der Kälte bauen Bakterien das Öl quälend langsam ab." Das Meer wäre jahrzehntelang vergiftet.

Umweltschützer halten es generell für falsch, den Energiehunger der Welt immer weiter mit fossilen Brennstoffen zu stillen. Sie wollen in der Arktis andere Schätze heben.

3. Boom der Datenzentren:

Luleå, Schweden / Hamina, FinnlandIhr Land, sagen die Inuit gern, sei eine riesige Kühltruhe. Die eisige Luft hält Rentierfilets und Walfleisch auch vor der Holzhütte frisch. Diese Gratiskühlung will nun auch die IT-Industrie nutzen. In Lulea, Nordschweden, baut das soziale Netzwerk Facebook ein gigantisches Rechenzentrum, in dem die Fotos, Kommentare und Nachrichten von Millionen Nutzern gespeichert und zum Abruf bereitgestellt werden. Es ist das größte seiner Art in Europa, das nördlichste weltweit - und vor allem eines der umweltfreundlichsten. Denn sein CO 2 - Ausstoß ist gleich null. Ein großes Rechenzentrum, so rechnet Greenpeace, verbrauche so viel Strom wie 180 000 Einfamilienhäuser. 40 Prozent davon verschlingt allein die Kühlung.

Diesen Strom kann sich Facebook in Lulea sparen. Denn meist herrschen draußen Minusgrade. Das weltweit operierende Internet-Unternehmen muss nur Luft in seine 18 fußballfeldergroßen Datenhallen leiten - schon sind sie gekühlt. Den Strom für die Rechner liefern Wasserkraftwerke am Fluss Lulea. Sie haben eine größere Leistung als der Hoover-Damm in Nevada.

Facebook ist aber nur das bekannteste Unternehmen, das den Schritt in den Norden macht. Das hat der 46 000-Einwohner-Stadt einen kräftigen Aufschwung beschert: Zig neue IT-Unternehmen siedeln sich im Industriepark am Stadtrand an. Im Hafen ziehen Bautrupps ein Fünf-Sterne-Hotel hoch, und in der Innenstadt öffnen Luxusrestaurants.

Schon träumen die Skandinavier von einem arktischen Silicon Valley, mit Serverparks und Internet-Startups. Auch im 600 Kilometer entfernten finnischen Hamina haben Politiker solche Hoffnungen: In der 21 000-Einwohner-Stadt kühlt Google sein neues Datenzentrum mit dem eisigen Wasser aus der nördlichen Ostsee. Island wiederum umwirbt Internet-Riesen mit billigem Strom aus Erdwärme.

Ab 2014 verknüpft ein Daten-Highway die Vulkaninsel mit London und New York. Die nordfinnische Stadt Oulu indes will einen ganzen High-Tech-Stadtteil für 20 000 Einwohner bauen, mit intelligenten Stromnetzen, Energiesparhäusern und viel Grünland zwischen dem Beton.

4. Sprit aus Seegras und Wellenkraft:

Frøya, Norwegen / Cook Inlet, Alaska.Skandinaviens Ökostrom wird zu einem entscheidenden Standortvorteil. Und langsam erkennen die Polarmeer-Anrainer, welch kostbare Rohstoffe ihnen die Natur neben Öl und Gas bietet. Seegras zum Beispiel. Die meterlangen Pflanzen wachsen auch im kalten Wasser in großen Mengen. Früher trockneten die Küstenbewohner sie und stopften ihre Matratzen mit ihnen aus.

Pal Bakken will die Pflanzen in viel größerem Maßstab nutzen. Der Norweger hat in Trondheim das Startup Seaweed Energy Solutions gegründet, das Seegras in rauen Mengen züchten soll. Tonnenweise will er es an Biospritproduzenten und Bioplastikhersteller verkaufen. "Seegras ist der perfekte Rohstoff", sagt Bakken. "Es wächst schneller als Zuckerrohr und Mais und braucht weder Bewässerung noch Dünger."

Vor der norwegischen Insel Froya testet Bakken eine erste Zuchtstation. An schwimmenden Rohren befestigt, treiben die meterlangen Pflanzen wie ein Teppich im Wasser. Um den pflanzlichen Rohstoff zu ernten, muss der Norweger nur mit dem Boot aufs offene Meer hinausfahren und den Grasteppiche an Land ziehen.

Die Massenproduktion würde sogar der Umwelt helfen: "Seegrasfelder könnten den Schmutz von Fischfarmen beseitigen", sagt Bakken. 2017 will er 100 000 Tonnen Seegras züchten. Später sollen es Millionen werden. Im Meer ließe sich ein Viertel der Biomasse produzieren, die Europa heute braucht, um Bioethanol zu produzieren, glaubt er.

In der Bucht Cook Inlet im Golf von Alaska wiederum wird bald ein Meereskraftwerk die Gezeiten nutzen, um Strom herzustellen. Die Konstruktion, die kleinen Windturbinen unter Wasser ähnelt, soll 2300 Haushalte versorgen, hofft das US-Startup Ocean Renewable Power.

Unternehmen hoffen auf gefrorenes GasAn das Potenzial der Technik glaubt sogar das amerikanische Energieministerium: Allein in Alaska, schätzt die Behörde, können Gezeiten- und Wellenkraftwerke 850 Terawattstunden Strom liefern, wenn sie alle geeigneten Stellen im Meer nutzten. Das wäre fast ein Viertel des US-Verbrauchs.

Noch mehr Ökostrom kann in der Arktis allenfalls die Windkraft produzieren. Etwa in Pitea, Nordschweden. Hier entsteht Markbygden, Europas größter Windpark. 1101 Turbinen sollen 4000 Megawatt Leistung bringen - so viel wie vier große Braunkohlemeiler. Die ersten 48 Turbinen sollen Ende des Jahres stehen, jede bis zur Flügelspitze 200 Meter hoch, heißt es beim schwedischen Windparkbetreiber Svewind, der das Milliardenprojekt mit dem deutschen Windradbauer Enercon stemmt.

Es ist ein High-Tech-Abenteuer, weil der Wind hier bis zu minus 40 Grad kalt ist. "Wir wärmen die Flügel mit Heizdrähten", sagt Michael Kyrk, operativer Chef bei Svewind.

Doch es gibt auch Widerstand gegen die grüne Energierevolution in der Arktis. Lokale Rentierzüchter warfen den Betreibern vor, ihre Weidegründe zu gefährden; sie fürchteten einen "Windmühlen-Kolonialismus". Sogar das Sami-Parlament, die höchste Vertretung der indigenen Einwohner in Lappland, schaltete sich schließlich ein. Die Proteste verstummten erst, als Svewind versprach, Kompensationen zu zahlen.

Im Meer wollen Forscher aber auch eine ganz andere Energiequelle anzapfen: Methanhydrat, zu Eis gefrorenes Erdgas am Meeresgrund. An der japanischen Küste ist es Forschern kürzlich erstmals gelungen, ein Vorkommen in 1000 Meter Tiefe anzuzapfen.

Auch die USA, Kanada und Norwegen entwickeln Techniken für die Gasernte in der Tiefsee. Die Aussichten sind gewaltig: Geologen des US-Innenministeriums schätzen, dass es genug zugängliches Methaneis gibt, um den aktuellen Erdgasverbrauch der Menschheit mehr als 100 Jahre lang zu decken.

Ob Gas oder Ökostrom: Viele Energieprojekte, das ist absehbar, werden die Landschaft im Norden verändern. Genau wie die Besucherströme, die sich neuerdings in die einst menschenleere Eiswüste ergießen.

5. Gefährlicher Tourismus: Spitzbergen, NorwegenDie Arktis wird zu einem immer beliebteren Ziel für Touristen. Spitzbergen zählte im vergangenen Jahr 38 000 Besucher, die per Kreuzfahrtschiff anreisten - 75 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Norwegische Schiffe hatten im Jahr 2011 gar 457 000 Passagiere an Bord - eine Rekordzahl. Base Jumper wiederum pilgern in Scharen zum abgelegenen Mount Thor auf der Baffin-Insel in Nunavut, um von der höchsten Steilklippe der Welt zu springen.

Aber nicht alle können dem Eistourismus Gutes abgewinnen. Vor allem die Kreuzfahrten stehen in der Kritik. Denn ein einziger Passagierdampfer stößt so viel CO 2 aus wie 84 000 Autos - und so viel Feinstaub wie eine Million Wagen. In der Arktis hat der Ruß aus den Schiffsschloten fatale Folgen: Wie ein Schleier legen sich die Partikel über das Eis, wärmen den Schnee im Sonnenlicht auf - und bringen ihn zum Schmelzen.

Auch das Problem ließe sich mithilfe neuer Technik lösen. In Bergen tauft die norwegische Reederei Fjord Line im Juni das erste Kreuzfahrtschiff der Welt, das mit Flüssigerdgas fährt. Aus dem Schornstein der MS Stavangerfjord kommt fast kein Feinstaub mehr, 90 Prozent weniger Stickoxide und 20 Prozent weniger CO 2 .1500 Passagiere sollen damit künftig an Norwegens Küste unterwegs sein, ohne eine Schmutzwolke zu hinterlassen.

Ein wichtiger Schritt. Doch er allein macht den Tourismus in der Polarregion nicht nachhaltig, wenn weiterhin Helikopter seltene Vogelkolonien stressen und Jagdtouristen mit Jeeps das Grasland zerpflügen.

6. Neue Handelsroute: Arktischer OzeanEs war ein verrückter Plan, aber im Frühjahr 2010 entschloss sich Thorleifsson, ihn umzusetzen: Mit zwei Freunden wollte er in einem kleinen Katamaran einmal um den Arktischen Ozean segeln, karg ausgestattet mit getrockneten Rentierherzen, Keksen und Satellitentelefon. Thorleifsson wusste, dass sich das Meereis immer stärker zurückzieht, er wollte mit seiner Bootsfahrt die Welt darüber aufklären.

Doch was er vor der Küste Sibiriens erlebte, überraschte auch ihn: "Das Wasser war eisfrei bis zum Horizont", erinnert er sich. "Wir segelten durch eine arktische Wüste."

In nur 80 Tagen gelang es den Abenteurern, den Ozean einmal zu umrunden - was Seefahrer früher Jahre kostete.

Das Nordpolarmeer, das der Norweger bezwang, ist der kleinste Ozean der Welt. Doch bisher trennte er seine Anrainer, er verband sie nicht. Das dreht sich nun um. Ein Zeitalter des Schiffshandels am Pol bricht an. Die Menschen im Norden, frohlocken manche, leben bald an einer Art Mittelmeer. Aber wenn es schlecht läuft, wird es ein totes Meer sein.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%