Manchmal sind Entwicklungsländer mit den Industriestaaten gleichauf oder sie sind ihnen gar voraus. In Kenia beispielsweise ist es selbstverständlich, per Handy die Miete oder die Schulgebühren zu überweisen. Die mühsamen Schritte vom Morsetelegraphen über Kohlemikrofone, Handvermittlung und der Wahlscheibe des analogen Telefons haben auch viele andere Länder weitgehend übersprungen: Mehr als 80 Prozent der Handys werden heute in Entwicklungsländern genutzt.
In einem anderen Sektor scheint sich eine ähnliche Entwicklung abzuspielen: Die Energieversorgung wächst in Entwicklungsländern rasant - allerdings oft Off-Grid, also unabhängig vom bestehenden Stromnetz. Anstelle von großen Kraftwerken, die über eine komplexe Infrastruktur Energie zu den Menschen bringen, sind es kleine Anlagen, die sich durchsetzen. Sie arbeiten autark und versorgen nur Dörfer oder einzelne Häuser mit Strom.
Energie zum MitnehmenIst es gar eine kleine technologische Revolution - vielleicht sogar eine ökologische - die sich gerade vollzieht? Denn klimaschädliche Kohlekraftwerke oder Endlager für Atommüll spielen bei Off-Grid-Lösungen jedenfalls kaum keine Rolle.
Wirtschaftliches Potenzial entfalten die Anlagen insbesondere für die Endverbraucher vor Ort: Es sind weniger Akteure zwischengeschaltet, die an jeder Kilowattstunde Strom mitverdienen wollen. Vor allem wird für viele Menschen der Zugang zu elektrischem Licht durch die Kleinanlagen (meist sind es Solaranlagen) überhaupt erst möglich gemacht. Denn oft wollen oder können Staaten die nötigen Kosten für die elektronische Infrastruktur nicht stemmen.
Dass sich die Off-Grid-Systeme vor allem für erneuerbare Energien lohnen, zeigt der deutsche Leuchtmittel-Hersteller Osram. In Kenia setzt er auf Solar. Sonnenenergie gibt es im Ort Mbita am Viktoria-See en masse. Dort hat das Unternehmen ein preisgekröntes Pilotprojekt umgesetzt, das an alten Gewohnheiten anknüpft: Früher kauften die Menschen den Brennstoff Petroleum in Geschäften, wenn es das Einkommen gerade hergab. Damit beleuchteten sie am Abend ihre Hütten, Geschäfte oder Fischerboote.
Sonne reinigt WasserHeute kaufen die Menschen weiterhin kleine Mengen ein - allerdings gehen sie dafür in ein von Osram entwickeltes Energiezentrum und tauschen wiederaufladbare, schuhkartongroße Batterien aus. Daran können sie daheim ihre Lampen oder Handys anschließen. Außerdem setzt das deutsche Unternehmen in dem Fischerort auf eine weitere Fähigkeit der Sonne: Bakterien und Viren unschädlich zu machen - in einer solarbetriebenen Filteranlage, die nun Trinkwasser spendet.
Aber nicht nur in Kenia zeigen sich die Vorteile der Off-Grid Stromversorgung. Nepal ist das höchstgelegene Land der Erde. Fast die Hälfte der Landesfläche liegt auf mehr als 3000 Metern Höhe. Das Land im Himalaya-Gebirge hat es daher schwer, Infrastruktur zu schaffen, um Dörfer mit Energie zu versorgen.
"Nepal ist ein armes Land", sagt Kiran Man Singh, der dort als Energieexperte für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) arbeitet. "Wir haben kaum Ressourcen, weil wir ein Binnenstaat ohne eigene fossile Brennstoffe sind."
Eingriffe in die Natur vermeidenDeshalb setzt Nepal auf Wasserkraft und das enorme Gefälle der Flüsse, die sich durch die Berge des Landes winden. Den Bau von mehr als 400 Mini-Wasserkraftwerken hat UNDP schon gefördert. 30 Kilowatt starke Anlagen sind das meist. Das genügt, um kleine Orte mit Strom zu versorgen. Straßen und Wohnhäuser können so erleuchtet werden und Handwerksbetriebe ihre Maschinen antreiben.
Der Vorteil der Mini-Wasserturbinen: Im Gegensatz zu den riesigen herkömmlichen Staudämmen, für die oft Wälder gerodet oder Flussläufe verändert werden, bleibt der Eingriff in Nepals atemberaubene Natur gering.
Letztlich können so auch Ressourcenkonflikte verringert werden, die Mammutprojekte oft nach sich ziehen - insbesondere wenn mehrere Länder das Recht auf eine Energiequelle beanspruchen. Der geplante Rennaissance-Staudamm am Nil beispielsweise hat schon jetzt einen Streit zwischen Äthiopien und Ägypten entfacht.
Reis raffiniert recycelt
Auch das Nachbarland Nepals, Indien, macht große Fortschritte, die Bevölkerung mit Energie zu versorgen. Vor fünf Jahren hatten in den ländlichen Regionen schon 67 Prozent der Einwohner Zugang zur Stromversorgung. Bei der gigantischen Bevölkerung Indiens von über einer Milliarde Menschen ist die Unterversorgung mit Strom aber immer noch gravierend.
Das haben auch die beiden befreundeten Unternehmer Gyanesh Pandey und Ratnesh Yadav vor sieben Jahren beobachtet und eine Lösung gefunden. Wind weht in ihrer Heimat, dem Bundesstaat Bihar kaum und vor den immer noch vergleichsweise hohen Kosten für Solaranlagen haben sie sich gescheut. In rauen Mengen wurde jedoch in Bihar seit eh und je Reis geerntet und verarbeitet. Übrig blieb ein Abfallprodukt: Reishülsen.
Milliardenmarkt Off-Grid
Gyanesh Pandey hatte am Rensselaer Polytechnic Institute in Troy in New York mit seinem Kollegen für genau jenen Rohstoff eine Biogasanlage entwickelt: Bei der Vergärung der Hülsen sollte das Biogas enstehen, aus dem sie letztlich Energie gewinnen. Sie gründeten die Firma Husk Power Systems, bekamen einen Kredit von der indischen Regierung und schlossen einen 32-Kilowatt-Generator an ein lokales Stromnetz an, das sie in einem Ort verlegen ließen. Mittlerweile versorgen 80 dieser Anlagen rund 200.000 Menschen - unter anderem auch in afrikanischen Ländern wie Uganda und Tansania.
Die Beispiele aus Kenia, Nepal und Indien sind bei weitem keine Einzelfälle, sondern Teil einer größeren Entwicklung. 349 Megawatt Leistung lieferten die Mikro-Netze im Jahr 2011 weltweit immerhin. Im nächsten Jahr werden es voraussichtlich 1,1 Gigawatt sein. Das ist zwar immer noch wenig, denn die Leistung entspricht gerade mal der eines Kohlekraftwerkes – doch der Trend ist eindeutig. Der weltweite Umsatz im Off-Grid-Markt könnte im Jahr 2020 dann 10,2 Milliarden Dollar betragen, wie das auf saubere Energien spezialisierte Beratungsunternehmen Navigant Research ermittelt hat.