Lebensmittelverschwendung Kohlrabi ohne Modelmaße

Mit der Aktion "Zu gut für die Tonne" und einer Veranstaltungstour durch Deutschland wollen Bundeslandwirtschaftsministerium, Slow-Food-Bewegung und Tafeln wieder bewusst machen, was Lebensmittel wert sind.

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Zu schade für die Tonne und auch noch traurig - Illustration von Wegwerf-Lebensmitteln am Aktionstag. (Foto: Köneke)

"Das ist kein 1a-Kohlrabi mehr. Den kann ich so leider nicht verkaufen", sagt Heinz Bursch, Landwirt aus der Nähe von Köln, und hält einen Kohlrabi durchschnittlicher Größe, aber mit einer deutlichen Einkerbung hoch. Zugegeben: Es ist nicht der ästhetisch schönste Kohlrabi auf der Welt. Aber er schmeckt wie seine Artgenossen mit Modelmaßen, und er hat auch genauso viele Nährstoffe.

Nur darf er nicht in den Handel. Die gesetzlichen Normen (Stichwort Gurkenkrümmung) sind zwar vor einigen Jahren weitestgehend abgeschafft worden. Doch die meisten Supermärkte nehmen unschönes und "standardisiertes" Gemüse nicht an. Wie schon Max Raabe besang: "Man liebt es gerne bunt, straff und glatt und rund. Tomaten, die nicht schrumpeln, Kartoffeln, die nicht rumpeln."

Der Landwirt Heinz Bursch mit einem Kohlrabi, der es wohl nicht in den Handel geschafft hätte. (Foto: Köneke)

Der Kohlrabi bleibt daher mit anderen eingekerbten Leidensgenossen auf dem Acker liegen. "Etwa 30 Prozent der Ware landet nicht beim Endverbraucher", sagt Bursch. Die Verschwendung der Mäkel-Lebensmittel werde in die Preise der Model-Kollegen einkalkuliert.

Milliarden für den Müll

Ladenhüter im Supermarkt, Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten oder gleich wegen Hässlichkeit auf dem Feld geblieben - die Vereinten Nationen (UN) schätzen, dass weltweit ein Drittel der erzeugten Lebensmittel nicht da ankommen, wo es sollte – nämlich auf unseren Tellern.

So lande ein wirtschaftlicher Wert in Mülltonnen und auf Komposthaufen, der so groß ist wie das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz: 750 Milliarden US-Dollar.
Alleine in Deutschland wirft laut einer Studie der Universität Stuttgart jeder Bürger jährlich mindestens 71 Kilogramm an Lebensmitteln weg (Großverbraucher wie Gaststätten, Kantinen und Krankenhäuser noch nicht mitgerechnet). Gut 200 Euro könnte jeder sparen, wenn er oder sie umsichtiger einkaufen, lagern und zubereiten würde.

Heinz Bursch ist Bauer in der dritten Generation; sein Großvater war stolz auf innovative Pflanzenspritztechnik, der Vater stellte auf bio um, Heinz Bursch versucht auf seinem Demeter-Hof nun zudem, vom Aussterben bedrohte Gemüsesorten wie den Maiwirsing zu retten. Am vergangenen Freitag hat Bursch einige interessierte Bürger und Journalisten über seine Äcker geführt. Kohlrabis mit Einkerbung und Salate mit zu wenig Gewicht auf der einen Seite – natürlich gewachsene Gurken, die nicht nur nach Wasser schmecken, auf der anderen Seite. Eine Tour voller Informationen und Geschmacksproben.

Kleine Landwirtschaftsbetriebe statt Überproduktion

Der Besuch der Burschen Äcker war zusammen mit zwei weiteren Bauernhofbesuchen Teil der Aktion "Zu gut für die Tonne", die das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BLE) zusammen mit Slow Food Deutschland und den Tafeln organisiert.

Weggeworfene Lebensmittel sind auch für die Natur ein Verlust: "All diese Lebensmittel brauchen Energie, Land, Wasser, Kraftstoff, natürliche sowie menschliche Ressourcen, um erzeugt, verarbeitet, verpackt, transportiert und gelagert zu werden", schreibt der Verein Slow Food Deutschland in einem Positionspapier. Beim Entsorgen gehen erneut Ressourcen verloren. Der CO2-Ausstoß der weltweiten Lebensmittelverschwendung liegt laut UN direkt hinter jenen der USA und Chinas.

In Deutschland verursachen wir laut WWF 
48 Millionen Tonnen Treibhausgase durch Nahrungsmittelverluste. Zudem wird durch nicht gegessene Lebensmittel unnötig Land kultiviert, das ansonsten sich selbst überlassen bleiben und die Biodiversität fördern könnte.

Doch nicht nur die Endverbraucher schmeißen Kalorien und Geld in die Mülltonne. Auf ihr Konto geht zwar mit 39 Prozent der größte Verschwendungsanteil, so der WWF. Doch auch Handel und Industrie sind an der Lebensmittelverschwendung schuld. Auf die Landwirte entfallen immerhin noch 14 Prozent, zum Teil unfreiwillig.

Erste Märkte reagieren

"Es ist ein gutes Zeichen, dass inzwischen einige Supermärkte weniger schöne Lebensmittel ebenfalls anbieten und Bäckereien Brot vom Vortrag verkaufen", sagt Stephan Bröhl vom BLE. Die Kampagne solle aber vor allem die Verbraucher ansprechen. "Wir wollen den Menschen wieder aufzeigen, wo unsere Lebensmittel herkommen und welche Einflüsse unsere Kaufentscheidungen haben", erläutert Andrea Lenkert-Hörrmann, Veranstaltungsleiterin bei Slow Food. Was in den Handel kommt, bestimmt letztendlich (meist) der Wunsch der Käufer.

Wenn es nach Slow Food ginge, würden die Verbraucher vor allem nach Lebensmitteln von kleinen Betrieben mit kleinen Herstellungsmengen verlangen statt von industrieller Massen-Landwirtschaft. Am besten zudem von regionalen Betrieben. Denn kurze Transportwege und Lagerzeiten bedeuten nochmals weniger Lebensmittelverluste.

Zu schlecht zum Verkaufen? Am Aktionstag in Köln konnten Kunden günstiges, aber unförmiges Gemüse kaufen. (Foto: Köneke)

Um Verbrauchern diese Idee nahe zu bringen, tourt die Zu-gut-für-die-Tonne-Kampagne aktuell durch Deutschland. Freitags steht die sogenannte Erntetour mit Vorortbesuchen bei Landwirten auf dem Programm, samstags gibt es auf Marktplätzen Podiumsdiskussionen, Informationsstände und Gemüsesuppe aus "Makel"-Gemüse. Köln und der Bursche Bio-Hof waren am vergangenen Wochenende Station 13. Auch in Dresden, Hamburg, Kassel, Koblenz, Jena, Paderborn und anderen Städten war die Initiative schon zu Gast. Demnächst macht sie in Potsdam halt.
Wie so oft vermischen sich bei der Kampagne teilweise mehrere gute Ziele: Wertschätzung von Lebensmitteln geht mit der Wertschätzung von Landwirten einher, ebenso wie mit bewusstem und gesundem Genuss. Vielleicht ist es aber schon ein Anfang, wenn mehr Menschen statt günstigen Doppelt-und-Dreifach-Packungen kleinere Mengen kaufen, sich nicht stoisch an Mindesthaltbarkeitsdaten festklammern und bei Gästeeinladungen nicht für ganze Fußballmannschaften kochen.

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