March for Science Revolte statt Elfenbeinturm

Forscher rufen zu einer der größten Demonstrationen aller Zeiten auf – gegen die Abkehr von faktenbasiertem Wissen und Denken. Doch der weltweite March for Science ist umstritten.

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Menschen protestieren gegen alternative Fakten und für die Wissenschaft in Boston im Februar 2017. Quelle: dpa

George Daley, Dekan der Harvard Medical School, gilt in der Stammzellenforschung als Mann für die unlösbaren Fälle. Vergangenes Jahr erst einigten sich unter seiner Leitung Dutzende Experten auf ethische Standards für die weltweite Forschung an Stammzellen. Daley befriedete dabei einen über Jahre schwelenden Streit zwischen Politik und Wissenschaft. Auch deshalb schauen seine Kollegen immer dann auf den Wissenschaftler, wenn diese zwei Welten besonders hart aufeinanderprallen. In diesen Tagen ist es wieder so weit. „Da zieht ein Sturm auf“, warnte der Biologe und Mediziner jüngst in einem Interview. Die USA seien „auf dem Weg zurück zu einem Denken wie vor der Aufklärung in die Tage von Aderlass und Wunderheilung“.

Daley und große Teile der US-Wissenschaftsgemeinde sind alarmiert, dass Diskussionen immer seltener auf Basis von Fakten geführt werden.

Fast täglich verbreiten US-Präsident Donald Trump und seine Entourage Halbwahrheiten oder schlicht Erfundenes als „alternative Fakten“. Trump, so die Angst vieler Wissenschaftler, könnte wissenschaftliche Arbeit und offenen Diskurs einer politischen Zensur unterwerfen.

Zehntausende Aktivisten organisieren deshalb die größte Wissenschaftsdemo, die Washington je gesehen hat. Am 22. April wollen sie mit dem „March for Science“ der überprüfbaren Wahrheit Gehör verschaffen.

Forschungsförderung als politisches Druckmittel

Anlass zur Sorge gibt es reichlich: So hat der US-Präsident erste Links auf Studien zum Klimawandel, den er anzweifelt, sofort nach Amtsantritt von Regierungswebseiten tilgen lassen. Wissenschafts-Aktivisten hatten sie aus Sorge um den Verlust der Daten auf andere Server kopiert und zum Teil außerhalb der USA gesichert.

Viele - Wissenschaftler, genauso wie forschende Unternehmen - befürchten zudem, dass die Regierung missliebige Forschungsfelder austrocknet.

Größter Geldgeber in der medizinischen Forschung etwa ist die Gesundheitsbehörde NIH mit rund 32 Milliarden Dollar jährlich der weltgrößte öffentliche Geldgeber für biomedizinische Forschung überhaupt. Geld für Studien zur Abtreibungsberatung bei am Zika-Virus erkrankten Schwangeren hat Trump schon gekappt. Mediziner sehen das als Entgegenkommen an die konservativen Abtreibungsgegner in der Republikanischen Partei - und fürchten weitere politisch motivierte Einschnitte.

Der Kampf für Fakten beginnt erst

Und auch in anderen Ländern soll es Proteste geben. Hier geht es vor allem gegen die Abkehr vom faktenbasierten Denken. Geplant sind mehr als 510 Demos auf sechs Kontinenten. Nicht direkt gegen Trump, sondern gegen den Abschied von belegbaren Daten und Fakten.

In Deutschland etwa bereiten Aktivisten an mehr als 20 Standorten Demonstrationen vor - unter anderem in Berlin, Helgoland, München oder Trier. Eine Übersicht über alle hierzulande geplanten Veranstaltungen gibt es im Netz. „Heute findet sich für jede noch so abstruse ,Wahrheit‘ irgendein Beleg im Internet – und für jede noch so unsinnige Weltsicht ein Forum“, sagt Tanja Gabriele Baudson, Mitorganisatorin der deutschen Wissenschaftsmärsche.

Fünf deutsche Nobelpreisträger als Unterstützer

Die Organisatoren haben prominente Unterstützer: „Wir müssen uns dafür stark machen, dass wissenschaftliche Fakten als Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses nicht verhandelbar sind“, sagt etwa Otmar Wiestler, Neuropathologe und Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft. Auch fünf Nobelpreisträger finden sich auf der deutschen Unterstützerliste. „Die Rückmeldungen sind überwältigend“, sagt Baudson, die an der Technischen Universität Dortmund als Bildungsforscherin arbeitet.

Dass Forscher auf die Straße gehen, ist dabei alles andere als üblich – und in der Wissenschaftswelt nicht unumstritten. Die Zunft bevorzugt es, unter ihresgleichen Dispute auszufechten. Eine Großdemo nach dem Vorbild des Frauenmarschs gegen Trumps Politik kollidiert zudem mit dem Selbstverständnis vieler Wissenschaftler, dass sich, wer unbeeinflusst nach Erkenntnis strebt, aus politischen Konflikten herauszuhalten habe.

Der Geologe Robert Young von der Universität von Western Carolina warnt sogar, dass der Marsch sein Ziel verfehle: Statt vom Glauben an die Wissenschaft zu überzeugen, „bestätigt die politische Aktion – ausgerechnet am weltweiten Umweltschutztag, dem ,Earth Day‘ – nur deren Skepsis an unserer Neutralität“. Das werde die Gesellschaft noch stärker spalten.

Ungeachtet dessen wächst die Zahl der Unterstützer für die Wissenschaftsmärsche stetig weiter an. Alleine die Facebook-Seite der zentralen Wissenschaftsdemo in Washington nähert sich 525.000 Fans. Und allen Beteiligten ist klar, dass der Kampf für Fakten im Grunde am 22. April erst beginnt. „Eine Demo ist erst mal nur eine Demo“, sagt auch die deutsche Wissenschaftlerin Baudson und drängt darauf, dass sich Forscher und Bevölkerung auch weiterhin austauschen – sei es in wissenschaftlichen Blogs oder Veranstaltungen.

Dass sich Widerstand lohnt, hat auch Harvard-Dekan Daley bereits erlebt. Trumps Vorvorgänger George W. Bush hatte 2001 per Präsidialerlass die staatlichen Gelder auch für Daleys embryonale Stammzellforschung gestrichen. Acht Jahre später revidierte Präsident Barack Obama diesen Bann. Bis irgendwann – mit Trumps Nachfolger – auch die Ära der „alternativen Fakten“ wieder enden könnte, darauf will derzeit aber niemand warten.

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