Metropole der Blechlawinen Forscher wollen Mexiko-Stadt von Staus befreien

Drei Stunden braucht ein Pendler, um in Mexiko-Stadt den Arbeitsplatz zu erreichen. Eine Online-Plattform soll das jetzt ändern.

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Wer sich hierzulande im allmorgendlichen Stadtverkehr über Staus ärgert, dürfte in den Augen vieler Bewohner von Mexiko-Stadt ein Luxusproblem haben. Denn die Staus in deutschen Großstädten sind nichts im Vergleich zum Verkehrschaos der Megacity mit ihren über acht Millionen Einwohnern.

Mexikos Hauptstadt ist, dem IBM Commuter Pain Index (deutsch: IBM Pendler-Schmerz-Index) zufolge "die schlimmste Pendlermetropole der Welt". So brauchen die rund 300.000 Pendler täglich jeweils knappe drei Stunden, um an ihren Arbeitsplatz in den Geschäftsbezirken der Großstadt zu gelangen. Im Schnitt stehen Pendler in Mexiko-Stadt damit rund einen Monat pro Jahr im Stau.

Diesem Problem hat sich ein Team von Datensammlern angenommen und dafür jetzt den Audi Urban Future Award 2014 gewonnen, der Mobilitätslösungen für Städte auszeichnet. Die Forscher unter der Leitung des Harvard-Professors Jose Castillo haben ein System entwickelt, das Verkehrs-Daten von Mexiko-Stadt in Echtzeit sammelt und auswertet.

Auf einer Plattform können Pendler die Daten zu ihrem Fahrverhalten teilen. Sie werden anonymisiert und zusammengefasst, um ein umfassendes Bild davon liefern zu können, was auf den Straßen von Mexiko-Stadt täglich passiert. Dabei sind die Daten auch öffentlich zugänglich.

Die Informationen können Stadt-und Verkehrsplaner nutzen, um den Stadtverkehr effizienter zu gestalten und Staus auf den Straßen zu reduzieren. Das sei auch dringend nötig. Aus Sicht von Teammitglied Carlos Gershenson fehle es der Metropole an Augen, Ohren und Gehirn. Die Hände und Füße der Stadt seien Fahrzeuge, doch davon gebe es in Mexico City reichlich. "Die Stadt ist blind, taub und dumm".

Ein Monat pro Jahr im StauMit ihrer Datenbank schlagen Castillo und sein Team gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie sammeln nicht nur Informationen zum Verkehrsfluss in Mexiko-Stadt, was bisher neu ist. Sie steuern durch die Veröffentlichung der Erkenntnisse gleichzeitig auch das Verhalten der Pendler, da diese jetzt genau erkennen, wann sie mit weniger Stau auf ihrer Route zum Arbeitsplatz rechen können.

So beschreibt Castillo das System als "Hilfe zur Selbsthilfe". Er ist sich sicher, dass Infrastrukturprojekte allein das Problem von verstopften Straßen, zumindest in Mexiko-Stadt, nicht lösen können. Außerdem glaubt er, dass Sorgen um die Sicherheit der persönlichen Daten zumindest in Mexikos Hauptstadt eine untergeordnete Rolle spielen.

Wer mehrere Stunden täglich im Stau steht, teilt seine Daten gern, wenn das sein Problem reduziert, so das Kalkül. Die Erfahrungswerte im Einführungsmonat November geben Castillo recht: Innerhalb weniger Tage standen dem Team schon rund 14.000 Datensätze zur Verfügung.

Autofahrer werden DatenspenderMit dem System konnten sich Castillo und sein Team gegen drei Mitbewerber aus Berlin, Boston und Seoul beim Audi Urban Future Award durchsetzten. Der mit 100.000 Euro dotierte Preis geht an das Projekt aus Mexico City "weil das Projekt bereits in die Umsetzung geht und konkrete und vor allem auch bezahlbare Lösungen für die drängenden Mobilitätsprobleme in den Megacities der Schwellenländer liefert", wie es aus der Jury heißt.

Das Team, das neben dem Architekten und Stadtplaner Castillo aus dem IT-Wissenschaftler Carlos Gershenson und der Kreativberaterin Gabriella Gomez-Mont besteht, will das System nun ausbauen und verbessern.

Die Datensammler glauben, dass ihre Idee die Lösung für verstopfte Straßen in vielen Metropolen weltweit sein könnte. Die so entstehende Informationssammlung könnte die perfekte Grundlage für die intelligente Verknüpfung von Verkehrsmitteln sein. Beispielsweise hätten Carsharingunternehmen die Möglichkeit, ihr Angebot genau auf die Bedürfnisse der Pendler zuzuschneiden.

Die Idee, aus Autofahrern Datenspender zu machen und damit Verkehrsstaus zu bekämpfen, ist an sich simpel. Ob sich der Ansatz auch auf europäische Städte übertragen ließe, ist indes fraglich. In Europa dürfte die Frage nach der Sicherheit der persönlichen Daten schwerer wiegen. Gerade auch weil der Transport mit Bus und Bahn besser funktioniert und Autoschlangen wie in Mexiko-Stadt nicht alltäglich sind.

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