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Oben ohne Können Unternehmen bald auf Chefs verzichten?

Firmen fahren ohne Manager Milliarden ein, wer will, macht Urlaub - Mitbestimmung wird immer wichtiger.

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Freiräume, Kreativität, Motivation, bessere Entscheidungen und Innovation. Derzeit floriert ein Diskurs über mehr Demokratie in Unternehmen.

Gerade junge, expandierende IT-Startups und ihre hoch qualifizierten Mitarbeiter experimentieren mit Modellen zur Mitbestimmung.

Denn partizipierende Angestellte, so das Credo, sind engagierter und verbessern die Wettbewerbsfähigkeit. Besonders avantgardistische Arbeitgeber erhalten den "New Work Award" oder die Auszeichnung "Great Place to Work".

Abstimmung über Führungskräfte

Doch auch etablierte Unternehmen versuchen sich an demokratischen Elementen. So auch die traditionsreiche Hamburger Maschinenbau AG Hauni: Jede von der Geschäftsleitung bestellte Führungskraft wird nach sechs Monaten von den Mitarbeitern bestätigt oder abgewählt.

Das US-Softwareunternehmen Valve Corp. kommt ganz ohne Manager aus. Die 350 Mitarbeiter erwirtschaften jährlich mehrere Milliarden US-Dollar Umsatz, indem sie selbstständig entscheiden, welche Programme sie schreiben und ausliefern.

Sechs Unternehmen, die die neue Arbeitswelt bereits leben, stellt der Film „Augenhöhe“ vor. Das Projekt gehörte 2014 zu den zehn erfolgreichsten Crowdfunding-Initiativen Deutschlands.

„Alle Unternehmen wollen immer die Besten einstellen. Dann stellen sie die Besten ein und behandeln sie wie kleine Kinder“, kritisiert im Film Christian Kuhna, der bei Adidas einen Campus für Mitarbeiter aufgebaut hat.

Chefs meditieren mit Belegschaft

Ein weiteres Beispiel für Mitbestimmung und eine gemeinschaftliche Firmenkultur liefert die Münchner Sparda-Bank. Dort legen die Mitarbeiter nicht nur die für sie zehn wichtigsten Werte für eine Bank der Zukunft demokratisch fest.

Das Führungsteam meditiert außerdem regelmäßig mit den Mitarbeitern, „um nicht nur auf der Kopfebene, sondern mit dem ganzen Körper miteinander kommunizieren zu können“, berichtet  der Chef des Instituts, Helmut Lind.

„Früher haben wir Mitarbeiter gesucht, die tun, was wir sagen“, sagt Klaus von Rotkay, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Microsoft GmbH Deutschland. „Heute suchen wir Mitarbeiter, die tun was wir nicht sagen“.

Bei Microsoft soll die Belegschaft ihre Aufgaben daher selbst definieren. Als Hilfestellung erhalten Angestellte das Manifest für Wissensarbeiter, das 33 Regeln für "erfolgreiche digitale Pioniere" enthält.

Beliebig langer Urlaub 

So mancher Unternehmenslenker dürfte solche Formen demokratischer Mitbestimmung skeptisch sehen - besonders dann, wenn Firmen auf Führungskräfte verzichten wollen. Doch Partizipation kann viele Gesichter haben und in den wenigsten Fällen bleibt der Chefsessel leer.

Die Beteiligung könne auf "Managementebene durch Partizipation, finanziell durch Erfolgsbeteiligung oder Eigentümerschaft, und sozial durch Diversität und Fairness gelebt werden", hat Isabell Welpe, Inhaberin des Lehrstuhls für Strategie und Organisation an der TU München, erforscht.

Zudem wächst die Zahl der Hybrid-Unternehmen, die "hierarchisch" und  zugleich "demokratisch" agieren. So hat Steve Jobs den Konzern Apple zu Lebzeiten fast schon autoritär geführt, seinen Mitarbeiten aber auch kreative Freiräume gewährt.

Flexibel soll es beim Unternehmer Richard Branson (u.a. Virgin) zugehen. Der Serial-Entrepreneur stellt seinen Mitarbeiter frei, wann und wie viel Urlaub sie nehmen. Ob von Branson intendiert oder nicht: Die Angestellten nehmen insgesamt weniger Urlaub.

Dass Flexibilität zu Lasten der Freizeit geht, möchte man beim Automobilhersteller BMW verhindern. Zwar können Mitarbeiter an allen deutschen Standorten ihren Arbeitsort selbst bestimmen. Allerdings erfassen sie die Arbeitszeit an diesem "Gleitort" genauso wie im Büro, um Mehrarbeit zu vermeiden. Zeiten der Nicht-Erreichbarkeit sind festgeschrieben.

Mitbestimmung ist kein Selbstläufer

Voraussetzung für Demokratie im Unternehmen sei ein offener, transparenter Umgang mit Interessengegensätzen und Gerechtigkeitsvorstellungen, meint Klaus Dörre vom Institut für Soziologie an der Universität Jena.

Dafür bedarf es allerdings einer Struktur, etwa in Form von Gremien, sagt Ines Pohl. Sie ist demokratisch gewählte Chefredakteurin bei der genossenschaftlich organisierten Tageszeitung taz. Sie räumt ein, dass Mitbestimmung dort ein langer, teils schmerzhafter Prozess war: „Mal eben die eigenen Pläne kommentierbar ins Intranet zu stellen, reicht nicht“.

Bei der taz habe sich der Redaktionsrat bewährt. Er besteht aus gewählten Mediatoren, „die der Geschäftsleitung nicht gleich mit Arbeitsrecht kommen, sondern erst einmal vermitteln“, sagt Pohl.

Die Beispiele zeigen: Mitbestimmung ist kein Selbstläufer, sie kostet Zeit, und: „Partizipation braucht Steuerung. Ebenso die Einsicht, dass niemand dauernd partizipieren kann und will“, betont Klaus Dörre.

Per App zu mehr Demokratie?

Eine Schwierigkeit, mit der Demokratie auch im politischen Bereich konfrontiert ist, könnte auch im Unternehmen entstehen: Wenn viele mitreden wächst der Aufwand, Entscheidungen herbeizuführen und umzusetzen.

Ein Tool, das Mehrfach-Gründer Armin Steuernagel mit Partnern entwickelt hat, könnte hier weiterhelfen. "APPstimmung" ermöglicht jedem Mitarbeiter, eigene Ideen per Smartphone-App zur Wahl zu stellen. Vorschläge, die viel Unterstützung im Betrieb bekommen, finden Beachtung oder werden direkt umgesetzt.

Möglicherweise entfallen zeitaufwändige Prozesse der Entscheidungsfindung in Zukunft ohnehin. Isabell Welpe vermutet schmunzelnd: „In wenigen Jahren diskutieren wir wahrscheinlich Algokratie statt Demokratie – weil dann die Algorithmen von Computern die besten Entscheidungen für uns errechnen“.

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