Öffentlicher Nahverkehr Sollten Bus und Bahn kostenlos sein?

Seit einem Jahr ist der Nahverkehr in Estlands Hauptstadt kostenlos. Eine erste Studie zieht nun eine positive Bilanz.

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Kostenlos, nicht umsonst – seit Januar 2013 könnte so das Motto für die Nutzer von Tallinns Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) lauten. Denn die Bewohner der estnischen Hauptstadt dürfen seit rund einem Jahr Busse und Bahnen kostenlos nutzen.

Alles was sie dafür machen müssen, ist eine Smartcard für zwei Euro Pfand kaufen. Zusammen mit dem Personalausweis gilt diese als gültige Fahrkarte. Besucher der Stadt zahlen weiterhin 1,60 Euro für eine Fahrt. Was als Wagnis begann, kann inzwischen als voller Erfolg bezeichnet werden.

Denn die gewollten Entwicklungen – weniger Autoverkehr, mehr ÖPNV-Nutzer, mehr Teilhabe von finanziell schlechter gestellten Bewohnern und einen Zuzug in die Innenstadt – treten laut ersten Untersuchungen zumindest teilweise schon ein.

Bereits nach wenigen Monaten ging der Autoverkehr in der Innenstadt signifikant zurück. 15 Prozent weniger seien es gewesen, sagte Allan Allaküla, Verkehrsexperte und Chef des Tallinner EU-Büros in einem Interview im vergangenen Frühjahr. Inzwischen dürfte die Zahl noch gestiegen sein, erste Studien stehen aber noch aus.

Cityticket für zwei Euro PfandDoch schon jetzt lässt sich eine Steigerung der Bus- und Bahnnutzung feststellen. Das zeigt eine Studie der Königlich Technischen Hochschule Stockholm, bei der die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs über 300 Tage gemessen wurde. Die Studie wurde im Januar 2014 im Rahmen des Jahrestreffens des Transportation Research Boards in Washington präsentiert (hier als PDF). 2012 nutzten noch rund 100.000 Menschen die Busse und Bahnen in Tallinn täglich. 2013 waren es immerhin drei Prozent mehr.

Dass dabei eine Erhöhung von „nur“ drei Prozent bei den Fahrgastzahlen vorliegt, hat mehrere Gründe: Der Preis für eine Fahrkarte war vorher bereits sehr günstig, und es gab viele Sonderregelungen, um Personen von der Bezahlung zu befreien. Vor dem Beginn des Projekts lag die Nutzung des ÖPNV bei rund 40 Prozent der Bevölkerung. Und die Einführung des kostenlosen "Tickets" muss immer noch den generellen Rückgang der ÖPNV-Nutzung kompensieren, der seit rund zwei Jahrzehnten in Tallinn anhält, nun aber gestoppt scheint.

Zufriedenere Menschen und schneller TransportAußerdem entsteht ein detailliertes Bild, wenn man den Effekt der Aktion auf die unterschiedlichen Stadtbereiche ansieht. So gab es die größte Steigerung mit plus zehn Prozent im nordöstlichen Distrikt Lasnamäe. Das Gebiet hat die höchste Einwohnerdichte, einen hohen Erwerbslosenanteil und einen hohen Anteil an russischsprachigen Menschen, die in Estland die größte Minderheit darstellen. Das Ziel, ärmere Bevölkerungsschichten mit dem Angebot anzusprechen, war also anscheinend erfolgreich.

Gleichzeitig hat sich durch den Wegfall der Fahrscheinkontrolle auch die Aufenthaltszeit an den Stationen verringert. Zusammen mit dem Netzausbau und der Anschaffung weiterer Busse und Bahnen führte dies zu höheren Taktzahlen und höherer Geschwindigkeit im Innenstadtbereich und entlang bestimmter Verkehrsachsen, wie die Studie zeigt.

Ob der Wegfall der Fahrkarten auch die anderen gewünschten Entwicklungen wie einen verstärkten Zuzug in die Innenstadt begünstigt, lässt sich erst in Langzeitstudien nachweisen. Schon jetzt ist jedoch eine klare Tendenz sichtbar: Der kostenlose Nahverkehr in Tallinn hat nicht nur zu einer Steigerung der Mobilität geführt, er zeigt auch gleichzeitig, wie Umweltbelastung verringert und Lebensqualität gesteigert werden kann.

Bleibt am Ende die Frage, ob das auch ein Vorbild für Deutschland ist? Wirtschaftlich gesehen wohl eher nicht: In Berlin bezuschusste die Stadt beispielsweise Busse und Bahnen der BVG 2012 mit 266 Millionen Euro. Für vergünstigte Tickets für Schüler, Studenten und andere Gruppen legt die Stadt noch einmal knapp 100 Millionen Euro drauf.

Die Einnahmen der BVG aus dem direkten Ticketverkauf betragen allerdings immer noch rund 570 Millionen Euro. Auf die zu verzichten, könnte sich die klamme Hauptstadt kaum leisten. Und ob sie sich durch Einsparungen an anderer Stelle (z.B. weniger Kosten für Straßenbau) und höhere Einnahmen (z.B. Parkgebühren) auffangen lassen, ist zumindest fraglich.

Lesetipp: Auf dem Blog Zukunft Mobilität gibt eine ausführliche Analyse einiger Versuche in den Niederlanden und Deutschland, den Nahverkehr für die Nutzer kostenfrei zu machen und weitere Zahlen aus Tallinn.

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