Ökotopia Zehn Trends für die Stadt der Zukunft

Wie sehen nachhaltige urbane Zentren des 21. Jahrhunderts aus? Zukunftsforscher Eike Wenzel beschreibt anhand von zehn Beispielen den Umbau der Städte.

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Von Eike Wenzel. Er gilt als einer der renommiertesten deutschen Trend- und Zukunftsforscher und hat sich als erster deutscher Wissenschaftler mit den LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) beschäftigt. Dies ist der zweite Teil seiner Kolumne, wie der Weg zur nachhaltigen Stadt der Zukunft gelingt. Den ersten Teil finden Sie hier.

1. Smart Cities sind nicht so selbsterklärend wie Smartphones

Bevor also wieder jemand mit dem iPhone winkt und zum tausendsten Mal die technologische Souveränität der digitalen Kommunikation lobpreist, sollten wir hier darauf bestehen, dass es auch in 50 Jahren die mit Steinen, Metallen etc. errichtete physische Stadt ist, die kommuniziert, ihre Bewohner glücklich macht oder ihnen den letzten Nerv raubt.

Mediale Vernetzung schön und gut. Doch die wirklich smarte Stadt der Zukunft ist ein komplexes Gebilde, das Infrastrukturen und individuelle Sehnsüchte, Handelsströme und Hedonismus, Ökologie und Ökonomie auf grazile Weise in Beziehung zueinander setzt.

2. Die regenerative Stadt ist ein Staat der Bürger, des Teilhabens und der Besitzverantwortung

Während alle mit riesigem Enthusiasmus über Teilen reden, ist es für die Stadt der Zukunft wichtig, dass ihre Bewohner ein Gefühl des Mitbesitzens entwickeln können. Besitz verpflichtet, Besitz schützt idealerweise davor, dass Vermüllung entsteht oder sich No-Go-Areas bilden. Städte werden dann auf nachhaltige Weise lebenswert, wenn sie von den Bürgern neu in Besitz genommen werden.

3. Vielfalt und Multifunktionalität machen Städte zum atmenden Ökokosmos

Das könnte beispielsweise so aussehen: Jeder städtische Park sollte nicht nur Park sein, sondern auch Sportplatz, Öffentlichkeit, Restaurant, Badestelle und vieles andere mehr. Stadtforscher nennen das auch das „Power-of-10“-Prinzip. Wenn jeder öffentliche Ort, jede Straße, jeder Stadtteil zehn oder noch mehr Eigenschaften in sich trägt, erblüht ein wirklich urbanes Leben.

Mit dem „Power-of-10“-Prinzip könnte noch der kaputtestes Kiez beginnen und sich über seine Grenzen hinaus bewegen. Nicht nur ein Spielplatz, sondern Eiscafé, Shopping-Meile, Kunstforum, Infoplatz...die Stadt erfindet sich auf dieser Weise neu als ein gelebtes Kunstwerk der Vielfalt und nicht der Entmischung.

4. Stadt = Kommunikation = Handel

Handel, Konsum und Genuss entstehen nur dort, wo auch Straßen multifunktional genutzt werden können. Vor dem Stuttgarter Bahnhof auf der Schillerstraße kann kein städtisches Lebensgefühl und kein Genuss entstehen, folglich auch kein Handel, keine Geschäfte, kein Umsatz. Der Handel hat von der urbanen Entmischung im 20. Jahrhundert zweifellos profitiert. Aber eigentlich müsste er auf die Barrikaden gehen, weil er sich in den autotrunkenen 1950er und 1960er Jahren aus den Metropolen vertreiben ließ. Wer heute in den Innenstädten weniger Autoverkehr, mehr Raum für Fahrräder und vor allem Fußgänger fordert, der muss nicht immer ein Ökofundamentalist sein – es könnte auch ein kluger Einzelhändler sein, der verstanden hat, dass Städte Märkte sind und Märkte letztendlich nichts anderes als Gespräche.

5. Die lebenswerte Stadt der Zukunft muss unterschiedliche Lebensgeschwindigkeiten zulassen

Plätze, Öffentlichkeit im städtischen Raum sind Zonen des Miteinander und – wenn es gut geht – Plätze der Deeskalation, auf denen ethnische und ökonomische Unterschiede keine Rolle spielen. Städtisches Leben braucht Entschleunigungsanker, um neuen Lebensstilen und Handelswelten Raum zu geben. Und natürlich brauchen wir „städtische Entschleunigungsstreifen“ auch deshalb weil auch die städtische Bevölkerung (außer in Afrika) in den kommenden Jahren deutlich altern wird. Gerade öffentliche Gebäude sind ein entscheidend wichtiges Versatzstück für die Stadt der Zukunft. Denn öffentliche Gebäude müssen kommunizieren und zu Kommunikation anregen, Öffentlichkeit herstellen.

6. Die Suburbanisierung des Lebens bleibt die größte Herausforderung

Die viel zitierte Kreative Klasse hat definitiv weniger Einfluss auf eine neue Stadt-Ökologie als bislang angenommen. Insbesondere der Stadtforscher Richard Florida hat das Konstrukt der Kreativen Klasse weltweit bekannt gemacht. Floridas Kreative sind in der Regel sehr gut ausgebildet und verstehen sich häufig als Unternehmer in eigener Sache. Wichtiger noch: Sie bevorzugen es, in den Innenstädten der großen Metropolen dieser Welt zu leben, wo sie hochwertige Arbeitsplätze, lebenswerte Innenstadtwohnungen, nachhaltigen Konsum und die direkte Anbindung an Trends und modernes Leben zu schätzen wissen.

Eine von Floridas Lieblingsthesen: Getragen von der Kreativen Klasse besteht die Zukunft der Städte in einer zunehmenden Verdichtung des Lebensraums, was nicht mehr als Zumutung („Moloch Großstadt“) wahrgenommen wird, sondern als Ticket in eine wohlstandsgeprägte und ökologische Moderne gilt. Aktuelle Zahlen aus der „Demographia World Urban Areas“ (PDF)weisen leider genau das Gegenteil aus. Und hier beginnen die ökologischen Probleme. Denn nach wie vor ist es so, dass Städte sich krakenartig in ihr Umland ausbreiten müssen, um für Wohlstand zu sorgen.

Metropolen und speziell die Megacities, die in den kommenden Jahren die größte ökologische Herausforderung darstellen, brauchen offensichtlich eine zeitgleiche Verstädterung des Umlands, um für Wohlstand und Prosperität zu sorgen. In den vergangenen 40 Jahren hat sich beispielsweise das wunderbare Paris um 55 Prozent ausgedehnt, während die Bevölkerungszahl nur um 21 Prozent angestiegen ist. Die krassen sozialen Probleme in den Banlieus sind einschlägig bekannt.

7. Kiezkonsum verdrängt den Massenkonsum

Märkte und Marktplätze werden wieder mehr ihren früheren Funktionen dienen: Sie sollten Unternehmertum und städtischen Handel fördern. Auf dem Marktplatz kreuzten sich die Mentalitäten und Handelssphären der Landbevölkerung und die städtische Wirtschaftskultur. „Märkte sind Gespräche“, das haben nicht nur die Geeks des Cluetrain Manifesto verstanden. Doch sie haben die Formulierung schön in ihrer Doppeldeutigkeit bewahrt: Märkte (der Wochenmarkt wie die nationalen und transnationalen Wirtschafträume, die wir ja auch Märkte nennen) basieren auf Gesprächen zwischen Kunden und Händlern, Händlern und anderen Händlern.

Diese kluge Ökonomie ist im öden Massenkonsum des 20. Jahrhunderts untergegangen. Der Handel hat die ganze zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hindurch davon profitiert, das wir Massenwohlstandskonsumenten die Entkopplung von Lebenswelt und Konsumwelt hingenommen haben.  3rd-Place-Shopping und Kiezmärkte sind ermutigende Trends, die wieder an die alte Handelskultur anknüpfen. Kiezmärkte sind in hohem Maße nachhaltig, weil sie gesunden Frischekonsum vor Ort bevorzugen und ein Statement gegen Fastfood und Convenience liefern.

8. Der große Städte-Boom findet in den ehemaligen Schwellenländern statt

Wir müssen bei der Stadt der Zukunft in den nächsten Jahren von einer zweiphasigen Entwicklung ausgehen. Die Ungleichzeitigkeit zwischen Restoration Economy in der westlichen Welt und gigantischen Neukonzeptionen in den ehemaligen Schwellenländern wird sich auf absehbare Zeit nicht aufheben lassen. Die Städte in der ehemaligen dritten Welt werden zwischen 2000 und 2050 von zwei Milliarden auf 5,5 Milliarden Einwohner anwachsen. 95 Prozent des großstädtischen Bevölkerungswachstums wird also in dieser neuen Welt stattfinden.

9. Eine zukunftsfähige Stadt ist eine antizipative Stadt

Dass wir bei der zukünftigen Stadtentwicklung von Ungleichzeitigkeiten zwischen der westlichen Welt und den ehemaligen Schwellenländern ausgehen müssen, heißt nicht, dass das Thema Nachhaltigkeit in den Schwellenländern einer ersten wilden Urbanisierung nachgeordnet werden sollte. Betrachtet man die katastrophalen Ökobilanzen chinesischer Millionenstädte, genießt die Vision der Ökostadt vielmehr oberste Priorität. Und speziell in Asien wird es darum gehen, frühzeitig – ähnlich wie in Kopenhagen geschehen – Verkehrsinfrastrukturen modern zu gestalten.

Ein ermutigendes Beispiel ist Ho-Chi-Min-Stadt. Die größte Stadt des boomenden Vietnams treibt weitsichtig und mit Hochgeschwindigkeit den Bau des öffentlichen Personennahverkehrs voran. Warum? Weil die vietnamesische Mittelschicht gerade von der Zweirad- auf die Vierradmobilität wechselt. Bislang sind die Menschen in Ho-Chi-Minh-Stadt zu 60 bis 65 Prozent mit dem Motorrad unterwegs. Bevor sie jetzt auf die bequemeren PKWs umsteigen und den Verkehrsinfarkt komplett machen, möchte ihnen Stadtregierung den ÖPNV schmackhaft machen. Automobilität wird auch in den neuen Tigerstaaten Asiens kein Zukunftskonzept mehr sein.

10. Gemeinschaften machen lange Planung zum Auslaufmodell

Was Städte und urbane Zentren immer wieder ausgezeichnet hat und so lebenswert macht: Gibt es auch nur halbwegs funktionierende Gemeinschaften in  einer Stadt, braucht es oft keine langatmige Planung – vitale Städte erneuern sich ständig aus sich selbst und werden von der Gestaltungslust ihrer Bürger getragen. Das ist sicherlich das nachhaltigste Konzept einer Stadt der Zukunft.

Zukunftsforscher Eikel Wenzel ist regelmäßiger Kolumnist bei WiWo Green. Weitere Texte von ihm finden Sie hier.

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